027 - Das Henkersschwert
»Wie immer, würde ich sagen. Ich habe ihr gesagt, daß sie uns verlassen wird, doch sie reagierte nicht darauf. Ich erzählte ihr, daß sie nach London fliegen würde, aber sie sah mich nur verständnislos an. Ich fürchte, daß Mrs. Hunter während des Fluges Schwierigkeiten machen wird. Haben Sie Beruhigungsmittel bei sich, Mr. Barrett?« »Ja«, sagte der Psychiater. »Möglicherweise gebe ich ihr ein Schlafmittel«
»Das wäre vielleicht ratsam.« Immer wieder sah Barrett das Mädchen an. Sie hatte jetzt die Hände in den Schoß gelegt. Die Schultern waren vorgesunken, und den Kopf hielt sie gesenkt.
Sie atmete ruhig und wirkte nun entspannt, doch Barrett erkannte, daß sie nur äußerlich ruhig war. Das Zucken ihrer Lider und die zusammengepreßten Lippen verrieten ihre innere Unruhe.
Er wurde aus dem Mädchen nicht klug. Gestern hatte sie eine unheimliche Ausstrahlung gehabt, die er körperlich gespürt hatte. Im Augenblick war sie jedoch nichts anderes als ein Mädchen, das sich vor etwas fürchtete. Wovor sie Angst hatte, konnte er nicht beurteilen, aber von Minute zu Minute wurde sie wieder nervöser. Ihre Hände verkrampften sich, und sie warf bereits zum fünften Mal einen Blick auf ihre Armbanduhr.
»Ich hole einstweilen Mrs. Hunter«, sagte Dr. Burger. »Sollte in der Zwischenzeit Mr. Hunter eintreffen, dann bitten Sie ihn, hier zu warten.«
Dr. Burger verließ das Zimmer, und Barrett wandte sich dem Mädchen zu.
»Wie stehen Sie eigentlich zu Mr. Hunter?« fragte er. Coco sah erschrocken auf. »Wir sind alte Bekannte.« »Sie kennen ihn schon lange?«
»Ja.«
»Seit wann, Miß Zamis?«
Sie rieb nervös die Hände. »Seit zwei Jahren.«
Sie lügt, stellte Barrett fest. Aber warum log sie ihn an? »Kennen Sie auch Hunters Frau?«
»Nein, ich kenne sie nicht.«
»Was empfinden Sie für Mr. Hunter, Miß Zamis?«
Das Mädchen fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen.
»Nun?«
»Das geht Sie nichts an«, fauchte Coco, und ihre Augen blitzten wütend. »Sie fragen zuviel, Mr. Barrett. Und ich habe keine Lust, auf Ihre Fragen zu antworten. Lassen Sie mich in Ruhe!«
Barrett lächelte väterlich. »Meine Fragen sind nicht böse gemeint, Miß Zamis. Ich meine es nur gut mit Ihnen.«
»Dann fragen Sie nicht weiter!« zischte sie spitz.
Bevor Barrett noch etwas sagen konnte, wurde die Tür geöffnet, und Dorian Hunter trat ins Zimmer. Coco sprang auf, lief ihm entgegen und warf sich erleichtert in seine Arme.
Dorian starrte sie kalt an. Ihr freudiges Lächeln erstarb. Sie trat einen Schritt zurück.
»Wie geht es dir, Dorian?« fragte sie,
»Ganz gut«, sagte er.
»Du warst im Haus meiner Familie«, sagte er. »Haben dir meine Ratschläge geholfen?«
»Ja«, sagte Dorian. »Ich rede später mit dir darüber. Ist Herr Helnwein eingetroffen, Mr. Barrett?« Der Psychiater schüttelte den Kopf.
»Nimm mich mit nach London!« bat Coco.
Dorian sah sie überrascht an. »Ich soll dich nach London mitnehmen?«
»Ja. Ich flehe dich an, nimm mich mit! Ich kann nicht in Wien bleiben. Es wäre mein Tod.« »Darüber sprechen wir auch später«, sagte Dorian. »Wo ist meine Frau?«
»Dr. Burger ist sie holen gegangen«, sagte Barrett und stand auf.
Dorian öffnete die Tür und sah auf den Korridor hinaus. Er erblickte Dr. Burger. Neben ihm ging Lilian.
Dorian lief ihnen entgegen. Sein Herz krampfte sich zusammen, als er das maskenartige Gesicht Lilians sah. Sie wirkte so zierlich und zerbrechlich wie eine Puppe. Ihr Gesicht war von einem Kranz goldfarbener Haare umrahmt, die ihr einen engelhaften Ausdruck verliehen.
»Lilian«, sagte Dorian mit mühsam unterdrückter Angst in der Stimme. »Lilian!«
Sie blieb stehen und sah ihn verständnislos an.
»Sie kennen mich?« fragte sie verwundert.
»Erkennst du mich nicht, Lilian?« fragte er leise. »Ich bin es – Dorian – dein Mann.«
Sie schüttelte den Kopf, dann lachte sie glockenhell.
»Ich habe keinen Mann«, sagte sie. »Ich bin nicht verheiratet. Sie müssen sich irren, mein Herr. Ich habe Sie noch nie gesehen.«
Dorian sah Dr. Burger fragend an.
»Sie hat Gedächtnislücken, Mr. Hunter. Das wird aber vergehen.«
Barrett und Coco waren neben Dorian getreten. Unbemerkt war Norbert Helnwein näher gekommen. Er trug einen langen Karton unter dem rechten Arm.
Lilian ging an Dorian vorbei und blieb vor Coco stehen.
»Sie sind wunderschön«, sagte sie zu Coco. »Darf ich Ihr Haar berühren?«
Coco nickte. Lilian streckte
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