028 - Das Monster und die Schöne
wanderte weiter zu zwei winzigen Fenstern, deren Scheiben mit Eisblumen beschlagen waren. Jeder Gedanke fiel mir schwer. Mein Körper schien aus Blei zu bestehen. Ich konnte mich nur äußerst mühsam bewegen.
Langsam richtete ich mich auf, und das Summen verstummte. Ich lag neben einem dunkelgrünen Kachelofen auf einem einfachen Fellager. Vor mir stand eine hochgewachsene junge Frau. Ihre Füße waren nackt. Sie trug einen einfachen schwarzen Rock, der bis zu den Knöcheln reichte und ihre Hüften betonte. Der Überkörper steckte in einer hochgeschlossenen, weißen Bluse, die kunstvoll bestickt war. Ihre Brüste waren hochangesetzt und ziemlich üppig. Ihr Gesicht lag im Schatten. Das volle blonde Haar fiel auf ihre Schultern herab.
Ich wollte etwas sagen, doch mein Mund war wie ausgetrocknet; ich brachte nur ein Krächzen zustande.
»Ich bin Tanja«, sagte die Fremde und kam einen Schritt näher.
Es dauerte einige Sekunden, bis mir bewußt wurde, daß sie Russisch gesprochen hatte. Jetzt sah ich auch ihr Gesicht, und ich konnte meine Überraschung nicht verbergen. Sie war die Frau, deren Foto mir Kiwibin gezeigt hatte. Jeder Zweifel war ausgeschlossen.
Dieses Gesicht mit dem zwingenden Blick, den hohen Wangenknochen und dem vollen Mund hatte sich mir fest eingeprägt. Sie trug wie auf dem Foto einen silbernen Stirnreif mit einem kleinen Amulett, das seltsam verschlungene Ornamente aufwies.
»Willst du etwas trinken?« Ihr Russisch klang fremdartig.
Ich wollte erneut sprechen, doch auch diesmal klappte es nicht. So nickte ich nur, legte mich wieder zurück und sah ihr nach, wie sie aus dem Zimmer ging. Dann schloß ich die Augen.
Meine letzte Erinnerung war das Flimmern, als ich das Amulett auf dem Foto angestarrt hatte. Dann der Sturz in die Bewußtlosigkeit und dann – nichts mehr.
Wer war diese Frau? Und wo steckte dieser geheimnisvolle Mr. Kiwibin?
Es dauerte nur wenige Augenblicke, und die Fremde kehrte zurück. Sie hockte sich neben mir auf ein Fell und hielt mir einen Becher hin. Ich streckte meine rechte Hand aus. Sie zitterte; ich konnte den Becher nicht halten.
Tanja drückte mich auf das Lager zurück und hielt mir den Becher an die Lippen. Ich trank in kleinen Schlucken. Es war warmer, ungesüßter Tee.
»Genug«, sagte sie und stellte den Becher auf den Boden. »Kannst du jetzt sprechen?«
»Ja«, antwortete ich heiser.
Mein Russisch war nicht perfekt, aber ich hatte es vor vier Jahren in Moskau aufgefrischt. Damals war ich Journalist gewesen und hatte eine Artikelserie über Schwarze Magie für die englische Sonntagszeitung News of the World geplant. Die Russen hatten jedoch von meinen Fragen bald genug gehabt. Sie waren nicht sonderlich an meinen Theorien über Geister und Dämonen interessiert gewesen. Sie hatten wohl geglaubt, daß ich hinter ganz anderen Dingen her war und mich deshalb ausgewiesen und in die nächste Maschine nach London gesetzt.
»Mein Haus ist eine Freistatt«, sagte Tanja.
Das sagte mir nicht viel.
»Wo bin ich?«
»In Novornaja«, sagte Tanja.
Ich runzelte die Stirn. Nie davon gehört. Noch immer fühlte ich mich entsetzlich müde, so als hätte ich einige Tage durchgezecht. Ich schloß wieder die Augen.
»Willst du noch Tee, Fremder?«
Ich schüttelte den Kopf. »Novornaja«, sagte ich nachdenklich. »Wo liegt das?«
»Im nördlichen Sibirien.«
Ich setzte mich überrascht auf. »Aber wie komme ich hierher?«
Sie lächelte. »Das weiß ich nicht. Ich habe dich bewußtlos im Schnee liegend gefunden. Da habe ich dich kurzerhand auf meinen Schlitten gesetzt und hierher gebracht.«
Ich ließ mich mit geschlossenen Augen zurücksinken. Was wurde hier gespielt? Vor wenigen Augenblicken hatte ich mich noch in London befunden und jetzt sollte ich in Rußland sein? Das kam mir doch zu unwahrscheinlich vor. Allerdings hatte ich tatsächlich den Eindruck gehabt, als würde mich das Amulett durch Zeit und Raum schleudern. Unsinn , dachte ich. Außerdem wußte ich nicht, ob die Angaben des Mädchens überhaupt stimmten. Aber das würde ich herausbekommen, sobald ich mich kräftiger fühlte.
»Du kannst dich an nichts erinnern?«
Ich schüttelte den Kopf. Vielleicht würde es von Vorteil sein, wenn ich mich verstellte. »Alles, was ich weiß, ist mein Vorname. Ich heiße Dorian.«
Tanja hatte die Hände im Schoß verschränkt und musterte mich. »Ich bin sicher, daß du dich bald an alles erinnerst.«
»Hatte ich nichts bei mir? Was ist mit meinen
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