0514 - Macumbas Totenhöhle
Das keuchende Atmen verstummte. Nur gab der Angesprochene keine Antwort. Dann wieder die Stimme.
»Virgil!«
»Jaaa…« Die Erwiderung glich mehr einem langgezogenen Stöhnen. Sie klang auch so, als wollte der Angesprochene überhaupt nicht reden, nur gezwungenermaßen.
»Wie fühlst du dich, Virgil?«
»Ich will raus!«
»Das kann ich mir denken!«
»Ich will weg!« entgegnete Virgil.
»Du darfst auch. Aber hast du die Kraft dazu?«
»Ja!«
»Tatsächlich?« Trotz der leichten Verzerrung durch den Lautsprecher war deutlich Spott aus der Stimme herauszuhören.
»Ich kann es!«
»Dann beweise es mir!«
Virgil schwieg. Vielleicht konnte er auch nicht begreifen, daß der andere ihn freilassen wollte. Jedenfalls reagierte er nicht.
»Möchtest du nicht, Virgil? Habe ich mich in dir geirrt? Hast du mich enttäuscht?«
»Nein!« Ein Schrei zitterte durch den stockfinsteren Raum.
»Dann los, Virgil!«
Der Angesprochene tat noch nichts. Er wartete ab und atmete nur.
Wieder war es dieses schwere Keuchen, das die Finsternis erfüllte, an den Wänden hochzukriechen schien, sich in den Ecken einnistete, um dort hocken zu bleiben.
Wer immer Virgil sein mochte, er war ein Mensch, kein Tier. Er konnte reden, Antworten geben, damit stand er über den Tieren.
Das Geräusch veränderte sich. Es bekam eine andere Klangfarbe.
Nicht mehr dieses fürchterliche Atmen drang gegen die kahlen Wände. Dafür ein leises Schaben, dazwischen war auch das Patschen zu hören, als würden Hände oder Tatzen flach auf den kalten, grauen und glatten Betonboden schlagen.
In regelmäßigen Intervallen klangen die Laute auf. Virgil bewegte sich weiter. Er hockte nicht mehr wie ein lebloser Gegenstand in der Ecke, er wollte etwas erreichen.
Dann verstummten die Laute.
Stille senkte sich in die Finsternis. Ein sehr langer Augenblick ging vorbei. Er wurde beendet durch ein tiefes Atemholen und ein sich anschließendes kaltes Lachen.
»Jetzt, Virgil, jetzt!«
Die Stimme hetzte ihn voran. Eine akustische Peitsche, die in seine Sinne drang.
»Jaaaa…!« brüllte er und nahm Anlauf.
Das schnelle Tappen war zu hören, als hornhautstarke Fußsohlen über den Boden hämmerten.
Virgil rannte, er war wie eine Maschine, die jemand aus dem Gefängnis befreit hatte.
Und er kam an.
Ein Krach ertönte, fast schon mit einer dumpfen Explosion zu vergleichen. In das Echo des Krachs hinein erklang auch das Splittern, als der schwere Körper – wuchtig vorangestoßen – die Tür durchbrach.
Er rannte hinaus und hinein in das Helle, in das Licht, in die dampfende, kalte Dunkelheit.
Virgil war unterwegs!
***
Lady Sarah Goldwyn, wegen ihres Faibles für alles, was mit Grusel zusammenhing, auch Horror-Oma genannt, schaute ihren Schützling Jane Collins nachdenklich an. »Mädchen, du gefällst mir gar nicht. In der letzten Zeit ißt du wenig, wirst immer blasser, nimmst auch ab. Das kann nicht so weitergehen.«
Über den gedeckten Abendbrottisch hinweg schauten sich die beiden unterschiedlichen Frauen an. Die blonde Jane sah den Ernst in Sarahs Augen. Ihr Lächeln fiel spärlich aus, bevor sie fragte: »Ist das denn ein Wunder?«
Mrs. Goldwyn lehnte sich zurück. »Was soll ich darauf erwidern, Kind?« Sie spielte mit einer ihrer Ketten und ließ die Perlen gegeneinander klimpern. »Es gäbe nur die eine Antwort.«
»Eben. Und darüber komme ich nicht hinweg.« Jane Collins senkte den Kopf.
Das Schicksal hatte ihr in ihrem Leben so manchen furchtbaren Streich gespielt. Jane Collins war eine Gebrandmarkte und würde immer eine Gebrandmarkte sein.
Als völlig normaler Mensch geboren und auch aufgewachsen, war sie in den grauenvollen Kreis der teuflischen Hexenmagie hineingeraten, zur Hexe umfunktioniert worden, hatte auf der Seite des Bösen gestanden und war wieder befreit. Dann war ihr ein Kunstherz eingepflanzt worden. Damit hatte es sich leben lassen. Nach einigen Irrungen und Wirrungen hatte Jane den Weg wieder nach London zurückgefunden, bei Lady Sarah Goldwyn eine neue Heimat erhalten, um letztendlich doch den Mächten der Finsternis Tribut zahlen zu müssen.
Grausam hatten sie zurückgeschlagen und ihr beim Hexenpolterabend bewiesen, daß mit ihnen nicht zu spaßen war.
Sie war zwar keine direkte Hexe mehr, dem Geisterjäger John Sinclair war es gelungen, sie zu befreien, der fürchterliche Fluch jedoch lastete wie ein Schwert über ihrem Kopf.
Ihr war ein schlimmes Erbe geblieben. Eine gespaltene Persönlichkeit, ein
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