0285 - In den Tiefen von Loch Ness
Gerade so, als ob er sich total betrunken habe!
Die inzwischen leere Whiskyflasche sah sie nicht. Die war längst weggeräumt worden.
Das Mädchen verließ die Bibliothek und suchte die eigenen Gemächer auf. Sie fragte sich, was Pete MacRoy in diesem Moment machte. Ob John für ihn gesorgt hatte?
Dann drängte sich das andere wieder in den Vordergrund. Das Ungeheuer von Loch Ness! Welche Verbindung bestand zwischen ihm und ihrem Vater, Sir Glenn?
Angely MacRaven war ahnungslos!
***
Gryf erreichte den großen, langgestreckten See. Da er kein großes Marschgepäck mit sich führte, konnte er sich relativ rasch und ungehindert bewegen. Vorsichtig achtete er auf jedes mögliche Anzeichen von Gefahr. Aber er konnte nichts Bedrohliches feststellen.
Niemand lauerte ihm auf. Keine feindseligen Gedanken waren zu spüren. Dennoch wurde Gryf nicht leichtsinnig. So wie er selbst sich abschirmen konnte, so konnten es auch seine und Nessys Gegner.
Er blieb im Unterholz stehen und sah auf den Uferstreifen hinaus, an dem er angelangt war. Auch hier kein Anzeichen von Gefahr. Das Wasser war ruhig, es gab nur schwache Wellenbewegung. Gryf atmete tief durch. Vorsichtshalber hielt er den Silberstab in der Hand, bereit, ihn sofort einzusetzen, falls er angegriffen wurde.
»Nessy«, murmelte er leise.
Nessy, das Monster! Das Geschöpf aus fernen Tagen, das wie ein Ungeheuer aussah, es aber nicht war. Sollte es wirklich Nessy gewesen sein, die um Hilfe rief? Aber es gab keine andere Möglichkeit. Der Ruf war von nah gekommen, und hier gab es nur Nessy -wenn sie noch lebte. Eine andere Möglichkeit verwarf er sofort wieder: Lord Saris, der sein Castle nicht allzuweit entfernt stehen hatte. Aber den hätte Gryf unter Tausenden sofort an der »Gedankenstimme« erkannt.
Langsam trat der Druide aus dem Unterholz hervor, über das harte, kurze Gras. Er verließ seine Sichtdeckung, kam ins Freie und näherte sich allmählich dem Wasser.
Immer noch keine Gefahr…
Ich bin ein Narr, dachte er. Ich sehe eine Bedrohung, wo keine ist! Wenn etwas Nessy bedroht, dann innerhalb des Wassers! Wasserbewohner aber verlassen ihr Element höchst selten, also müßte ich hier an Land sicher sein!
Dann stand er an der Wasserkante, sah, wie die Wellen leicht auf ihn zuliefen und ihn nicht erreichten. Das Ufer fiel hier etwas steiler ab. Entsprechend rasch mußte es in die Tiefe gehen. Gryf versuchte etwas unter der Wasseroberfläche zu erkennen. Nichts. Er versuchte, nach fremden Gedanken zu lauschen, aber da waren keine.
Ein Bild der Ruhe und des Friedens, wie es nicht perfekter sein konnte! Wenn Gryf nicht den Hilferuf so deutlich wahrgenommen hätte, würde er jetzt an sich selbst zweifeln.
Vorsichtig berührte er mit dem Silberstab das Wasser.
Nichts! Keine sprühenden Funken, kein Zischen, kein elektrischer Schlag, keine Verfärbung. Alles harmlos!
»Das gibt’s nicht«, murmelte er und wollte gerade intensiv nach Nessy rufen, als hinter ihm ein Ast knackte. Jemand war darauf getreten und hatte ihn zerbrochen!
In der Reflexbewegung kreiselte Gryf herum, wirbelte dabei den Silberstab wie einen Schlagstock herum und duckte sich. Er traf etwas, das aufkreischte und förmlich zerfetzt wurde. Gryf sah bleiche Knochen, zerlumptes, dreckiges Leder, und von rechts und links sprangen ihn jetzt zwei andere an, die aus dem Nichts auftauchten!
Totenschädel grinsten ihn an!
Er sah Stahl blitzen, Schwerter, die gegen ihn geführt wurden und ihn erschlagen sollten! Er ließ sich instinktiv nach rückwärts fallen, dem See entgegen, und löste dabei konzentriert den zeitlosen Sprung aus.
Dort, wo er gerade noch gewesen war, klirrten Schwerter funkensprühend gegeneinander und zerbrachen. Wäre er eine Zehntelsekunde später geflohen, hätten sie ihn glatt zerteilt.
Aber Gryf befand sich nicht mehr am Ufer des Loch Ness.
Er hatte seinen Fluchtsprung bereits hinter sich gebracht und war an einem anderen Punkt von Mütterchen Erde angekommen. Bevor er zum See ging, hatte er sich genau eingeprägt, wohin er zu springen hatte, damit er nicht nach irgendwo verschlagen wurde, sondern im Notfall dennoch genau dort ankam, wohin er wollte.
Er war in Frankreich!
Er war im Château Montagne seines alten Freundes Professor Zamorra!
***
Angely MacRaven duschte, schlüpfte in ein provozierend kurzes Kleid und klingelte nach dem Butler. »Wo befindet sich Mister MacRoy?«
»Ich habe ihn in den Gästetrakt gewiesen, Miß Angely«, erklärte John steif. »Dort
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