029 - Der tätowierte Tod
irgendwelche Waren aufzuschwatzen.
»Den kenne ich!« rief Paul plötzlich.
Er sah nur für einen Augenblick das verschlagene Gesicht mit dem verfilzten Vollbart und der Hakennase in der Menge auftauchen, aber er erkannte sofort den Armenier, der ihn zu Meze, dem Tätowierer, gelockt hatte.
»Paul, wohin willst du?«
Aber Paul achtete nicht auf Ginger. Er hatte die Verfolgung des Armeniers aufgenommen. Jetzt sah er ihn wieder in der Menge auftauchen. Er würde ihm nicht entkommen.
Als sich Paul einmal umdrehte, bemerkte er, daß Ginger ihm folgte, aber von Dorian Hunter war nichts zu sehen. Egal, sie würden einander schon wiederfinden. Und dann würde Paul vielleicht schon von dem Armenier erfahren haben, wo die Jünger Srashams sich aufhielten.
Er sah den Armenier in einem Geschäft verschwinden und folgte ihm bedenkenlos. Kaum war er jedoch durch den Vorhang getreten, als sich etwas Schillerndes auf ihn senkte. Um ihn wurde es dunkel. Etwas verstopfte mit beizendem Gestank seine Atemwege. Paul Fisher bekam keine Luft mehr. Er glaubte, ersticken zu müssen. In weiter Ferne hörte er Gingers Angstschrei; er wurde leiser und erstarb dann gänzlich.
Paul verlor die Besinnung.
Paul und Ginger waren auf einmal verschwunden. Dorian hob die Schultern. Er konnte es ihnen nicht verdenken. Die beiden hatten ein neues Leben vor sich. Was sollten sie bei einem Auserwählten wie ihm, der eigentlich ein Ausgestoßener der Zivilisation war?
»Du suchst Glückseligkeit und Entspannung«, sagte eine wohlklingende Frauenstimme da.
Dorian wurde sich jetzt erst bewußt, daß er längst nicht mehr im Basar war. War er so in seine Gedanken versunken gewesen, daß er nicht gemerkt hatte, wohin sein Schritt ihn lenkte? Er war in einer ihm gänzlich fremden Gegend: eine schmale, gewundene Gasse, Schmutz und Unrat zuhauf, Frauen, die mit wiegenden Hüften auf und ab trippelten, lässig rauchten, zerlumpte Gestalten, in Hauseingängen kauernd. Ein Sündenpfuhl.
Hatte der Wille des Demiurgen ihn hierher gelenkt, um ihn zu prüfen?
Die Versuchung kam in der Gestalt einer verhüllten Frau, die einen Schleier vor dem Gesicht trug. Sie paßte nicht in diese Gasse und sie war auch keine von den Liebesdienerinnen, die mit schamlos gegrätschten Beinen dastanden. Sie war ganz anders.
»Bei mir findest du, was du suchst, Fremder«, redete sie ihm zu.
»Ja, ich bin ein Suchender«, sagte Dorian mit einem Ernst in der Stimme, der ihm selbst fremd war. »Aber ich glaube nicht, daß ich bei dir fündig werde, schönes Kind.«
»Wer weiß?« Sie streckte ihm eine Hand hin.
Dorian wollte sie ergreifen, zuckte aber im letzten Augenblick zurück. Seine Hände waren noch immer mit den geknoteten Schnüren bandagiert – und die Schnüre vom Blut des Opferlammes getränkt.
»Komm!« lockte die Unbekannte und eilte voraus.
Dorian folgte ihr. Er hatte keinen Grund, sich von ihr abzuwenden. Sie hatte noch nichts getan, was ihn zu der Annahme veranlaßt haben könnte, daß sie der Sünde verfallen war. Ihr Gang war stolz und gleichzeitig von einer ungezwungenen Natürlichkeit. Dorian sah nichts Erotisches in ihren Bewegungen. Wie leicht es doch eigentlich war, die Begierde zu bezwingen.
Während sie vor ihm herschwebte, drehte sie sich kein einziges Mal um. Der duftige Schleier wehte hinter ihr her, und Dorian streckte einmal die bandagierte Hand danach aus, um die kalte Seide zwischen den Fingern zu spüren, aber seine Finger hatten keinen Tastsinn mehr. Ob er einen Stein berührte, Samt oder Seide – für den Auserwählten gab es da keinen Unterschied.
Der Raum, in den sie kamen, war ganz in Tüll verpackt. Zwei Öllampen spendeten angenehmes Licht. Die verhüllte Frau lag auf einem Lager ausgestreckt, die Hände erhoben und damit Schlangenbewegungen vollführend. Dorian sah dem Tanz der Hände fasziniert zu.
Eigentlich hätte er jetzt fortgehen sollen, aber obwohl er die Absichten der Frau durchschaute, glaubte er sich stark genug, ihren Verführungskünsten widerstehen zu können. Er war sicher, die erste Prüfung hier und jetzt ablegen zu müssen. Und er war überzeugt, daß er das Siegel des Busens nicht brechen würde.
Er war ihr nun ganz nahe, berührte ihre sich schlängelnden Hände, deren Finger sich bogen, als wären sie aus Gummi.
»Warum sind deine Hände bandagiert, Fremder?«
»Damit ich keine unzüchtigen Handlungen begehen kann.«
Sie kam hoch, umarmte ihn. Er versteifte sich. Sie schreckte vor seiner Gefühlskälte
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