Der Sohn des Sehers 03 - Renegat
Prolog
DER WÄCHTER SPÜRTE es in den Knochen, dass das Wetter umschlagen würde. Missmutig starrte er das lange Tal hinab. Aus den tieferen Lagen stieg Nebel zwischen den schneebedeckten Hängen auf. Er würde die Stadt bald verschlingen, und dann würde sie mit umso größerem Recht »Die Verborgene« heißen. Der Wächter spuckte aus und versuchte, sein steifes rechtes Bein zu entlasten, aber es brachte ihm keine Linderung. »Tauwetter«, brummte er, stützte sich auf seine zweihändige Kriegsaxt und blickte zum Himmel. Zerfranste Wolkenfetzen jagten darüber. Das passte gar nicht zu der dicken Suppe, die sich durch das Tal hinaufwälzte. Baldim der Wächter war kein Seher, und so hatte er nicht die leiseste Ahnung, was ihm die Wolken sagen wollten. In gewisser Weise erschienen ihm ihre zerfetzten Umrisse wie eine Warnung, aber was verstand er schon von diesen Dingen? Er schulterte seine schwere Axt und hinkte zur anderen Seite der Pforte. Dabei verfluchte er wieder einmal, wie eigentlich jeden Tag, der kein Feiertag war, den Ussar, der ihm seinerzeit den Pfeil ins Bein geschossen hatte. Der Heiler hatte ihn damals aufgefordert, den Göttern ein großes Dankopfer zu bringen, weil er vom Wundbrand verschont geblieben war und sein Bein behalten hatte, aber der Mann hatte gut reden. Baldim war kein Heiler, der nur mit den Händen im Schoß darauf wartete, dass die tapferen Reiter aus der Schlacht zurückkehrten, um dann viele von denen, die den Kampf überlebt hatten, doch noch mit seinen Kräutern, Ritualen und Gebeten ins Jenseits zu befördern, nein, er war ein
Krieger, ein Yamanoi. Was aber war ein Krieger wert, der nicht mehr reiten konnte? Er hätte mich sterben lassen sollen , dachte der Wächter, dann würde ich jetzt den Wind und die Mähne eines unsterblichen Rosses im Gesicht spüren, und mit anderen Helden um die Wette reiten, so wie früher. Noch einmal spuckte Baldim aus. Er war einst an der Seite des Tiudhan geritten, der beste Reiter in der Leibschar des Fürsten. Jetzt stand er sich vor diesem steinernen Tor die Beine in den Bauch.
Der Wächter schüttelte den Kopf über diese Gedanken. Er nahm an, dass der Tiudhan es sogar gut gemeint hatte, als er ihn zu einem der Ehrenwächter des Dhanag, des großen Hauses des Fürsten, ernannt hatte. Es war ein angesehener Posten, und es war besser, als in der leeren Hütte zu sitzen und auf das Ende zu warten. Baldims Frau war früh verstorben, und er hatte keine Kinder, und da nach seinem Tod wohl niemand seiner gedachte, würde sein Aufenthalt auf Marekets Weiden nicht sehr lange dauern. Und dann würde er im großen Ahngeist verschwinden. Er würde den Deutern des Orakels seine wenigen Besitztümer vermachen, damit sie für ihn die Flamme wenigstens eine Zeit lang unterhielten.
»Aber mögen muss ich sie deshalb noch lange nicht«, brummte er. Er hielt inne und blickte sich misstrauisch um. Er sprach mit sich selbst, eine leidige Angewohnheit, seit er meist allein vor dieser Pforte stand. Das war der Haken an dieser Ehrenwache - sie war im Grunde genommen überflüssig. Das war Tiugar, die Verborgene Stadt - kein Fremder hatte sie je betreten. Baldim humpelte zurück zur anderen Seite der breiten Pforte. Seine blassblauen Augen starrten trübe auf den Nebel, der erstaunlich schnell näher gerückt war und bereits die ersten steinernen Häuser verschluckte. Die Stadt hatte keine Mauer, sie brauchte sie nicht, die Berge ringsum waren Schutz genug. Und an der einzigen Stelle, an der sie nicht genügten,
wartete ein gut befestigtes Bollwerk auf mögliche Feinde, die aber bisher noch nie den Weg hierher gefunden hatten. Für die Völker außerhalb Srorlendhs, des Staublandes, war Tiugar nur ein Gerücht, eine Sage, die davon erzählte, dass selbst die rastlosen Hakul, die mit ihren Zelten jahraus, jahrein über die Weiden zogen, irgendwo eine feste Stadt hatten und in den Bergen oberhalb dieser verborgenen Siedlung das sagenhafte Orakel der weißen Stuten hüteten. Baldim lachte grimmig, als er an die Dummheit ihrer Feinde dachte, und versuchte, sein schlimmes Bein zu entlasten. Am Anfang war die Langeweile sein ärgster Feind gewesen, aber irgendwann hatte er gemerkt, dass es vieles gab, worüber es nachzudenken lohnte, an diesen langen und ruhigen Tagen. Doch in letzter Zeit hatte sich vieles geändert. Während früher nur die Deuter des Orakels zum Dhanag, dem Haus des Fürsten, gekommen waren, oder der eine oder andere Yaman von den Klans der Ebene, so
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