029 - Der Unheimliche
auf.
»Rauschgiftskandal? Was schreibt die Zeitung darüber?«
»Es geht um zwei Banden, die Rauschgift eingeführt haben. Interessiert Sie das?«
Zufällig schaute sie ihn an und hätte beinahe vor Überraschung die Zeitung fallen lassen. Maurice Tarn war immer blaßgelb im Gesicht, aber jetzt wurde er kreideweiß.
»Was ist mit den zwei Banden?« krächzte er. »Lies schnell vor!«
»Ich dachte -«, begann sie.
»Es kommt nicht darauf an, was du dachtest - lies endlich vor!« befahl Tarn ungeduldig.
Elsa verbarg ihr Erstaunen und begann:
›Gestern morgen fand unter der Leitung des Kriminalinspektors Bickerson eine Razzia in einer Warenniederlage in Whitechapel statt. Beträchtliche Mengen an Opium und Kokain konnten sichergestellt werden. Offenbar befand sich hier der Lagerraum einer der beiden Banden, die nicht nur bei uns, sondern auch in den Vereinigten Staaten eine bedeutende Rolle im Rauschgifthandel spielen. An der Spitze der einen Bande soll ein japanischer Geschäftsmann, ein gewisser Soy oka, stehen. Andere Informationen besagen jedoch, daß Soyoka nur als Strohmann vorgeschoben ist und daß die Transaktionen von Männern durchgeführt werden, die eine angesehene gesellschaftliche Position einnehmen. Angeblich sollen sogar zwei Beamte der indischen Verwaltung die Hand im Spiel haben. Über die Mitglieder der anderen Bande war bisher kaum etwas bekannt. Man wußte nur, daß beide Organisationen Hunderte von Agenten beschäftigen. Die vor kurzem erfolgte Festnahme eines Griechen in Cleveland, Ohio, und seine Aussagen vor einem Gericht der Vereinigten Staaten geben Scotland Yard jetzt aber die Möglichkeit, gewisse Spuren in Großbritannien zu verfolgen. Bei seiner Vernehmung gab der verhaftete Grieche an, daß es sich bei den Rädelsführern der zweiten Bande um einen englischen Arzt und einen bekannten Londoner Geschäftsmann handle.‹
Tarn stöhnte laut.
»Was ist?« fragte Elsa erschrocken.
Er winkte ab.
»Hole mir etwas Kognak - aus dem Schränkchen in meinem Arbeitszimmer«, murmelte er. Sie brachte ein halbgefülltes Glas, das er in einem Zuge gierig austrank. Langsam kehrte die Farbe in sein Gesicht zurück, und er zwang sich zu einem schiefen Lächeln.
»Du bist schuld«, brummte er. »Ein Mann in meinem Alter sollte so früh am Morgen keine Heiratsanträge machen. Aber überlege es dir noch einmal, Elsa! Ich bin dir doch immer ein guter Freund gewesen.«
»Soll ich Ihnen noch etwas vorlesen?«
Tarn schüttelte den Kopf. »Das ist alles Unsinn! Weiter nichts als eine Zeitungsente. Die leben ja von Sensationen!«
Mühsam erhob er sich. »Wir wollen im Büro weiter darüber sprechen.«
Dann ging er mit unsicheren Schritten hinaus und schlug die Tür seines Arbeitszimmers hinter sich zu. Er hatte sich noch nicht wieder sehen lassen, als Elsa schon in den Autobus stieg, der sie zum Geschäftshaus von Amery & Amery im Osten Londons brachte.
2
Das Kontor der Firma Amery & Amery befand sich noch immer in demselben Gebäude wie schon vor Jahrhunderten, als der große Brand halb London zerstört hatte. Dank der Tatkraft des Firmengründers, der mit allen seinen Angestellten den Kampf mit dem Feuer aufnahm, konnte das Haus damals gerettet werden und ragte nach der Katastrophe als einziges, hoch und schmalbrüstig, aus den verräucherten Ruinen der Wood Street auf. Im Verlauf der Zeit waren im Innern mancherlei Umbauten vorgenommen worden, aber das äußere Gesicht des Amery-Hauses war noch das gleiche wie an jenem Tag, als die ›Mayflower‹ aus dem Hafen von Plymouth auslief und beinahe das Schicksal der ›Pleasant Endeavour‹, jenes stolzen Ostindienseglers der Amery Brothers, teilte.
Das Schicksal der Firma hatte sich im Laufe der Jahrhunderte recht wechselhaft gestaltet. Ein Amery hatte eines Abends in Whites Gasthaus fast seine gesamte Handelsflotte beim Würfelspiel verloren, ein anderer Amery hatte später jedoch den Gegenwert im Teegeschäft wieder hereingeholt. Unverändert hatte nur das Haus der Zeit getrotzt, dieses enge Haus mit den ungleichmäßigen Fußböden, den niedrigen Decken, seinen altertümlichen Schränken und den gewundenen Treppen. Noch immer stand die verblaßte Aufschrift ›Amery & Amery, Export und Import‹ über den dicken, grünlichen Fensterscheiben, in denselben Lettern, die ein Amery am Todestage König Georgs des Dritten ausgewählt hatte.
Elsa, die an diesem sonnigen Frühlingsmorgen vor ihrem alten Schreibtisch saß, schien ebensowenig in die
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