029 - Der Unheimliche
Street, und seine Gedanken beschäftigten sich anscheinend mit den Lastwagen, die die enge Straße versperrten, oder mit dem Polizisten, der bemüht war, die Durchfahrt zu regeln.
Elsa atmete tief auf.
»Soll ich die Papiere hier lassen?« erkundigte sie sich.
»Nein. Nehmen Sie einen Brief auf an Fing Li Tsin, 796 Bubbing Well Road, Shanghai.«
Er begann, in chinesischer Sprache zu diktieren, unterbrach sich dann aber ärgerlich.
»Verzeihen Sie, Sie verstehen ja kein Chinesisch.« Dann fügte er schnell hinzu: »Fing kann ausgezeichnet englisch schreiben und lesen. Schreiben Sie also:
›Ich suche einen vertrauenswürdigen Mann für die Provinz Nang-poo. Feng Ho ist bereits angekommen, Sie können ihm hierher schreiben. Wenn Sie das Lange Schwert von San Yat sehen, sagen Sie ihm . . .‹«
Er hielt inne und reichte Elsa einen Zettel. Darauf standen in Druckbuchstaben die Worte:
Bahre, Tendenz, Notbehelf, Kerze, Schablone, Seitenstück, Ahorn, Gipfel, Hamlet, Wunsch.‹,
Amery schaute sie nachdenklich an, während sie las, und als sie ihren Kopf hob, trafen sich ihre Blicke. Elsa errötete.
»Ist das nicht eine gute Stellung?« fragte er. »Nicht übermäßig viel zu tun und gutes Gehalt!«
Es war das erstemal, daß er für sie die geringste Teilnahme zeigte. Bis jetzt hatte Elsa das Gefühl gehabt, als wenn er sie nur wie einen beweglichen Gegenstand im Hause betrachtete.
»Ja, es ist eine gute Stellung«, erklärte sie verlegen. »Ich hoffe, daß meine Arbeit zufriedenstellend ist.«
Amery gab keine Antwort, und Elsa ergänzte die Liste seiner Untugenden noch durch ›flegelhaftes Benehmen‹.
»Haben Sie meinen Großonkel Bertram Amery noch gekannt?«
Er blickte sie bei dieser Frage nicht an.
»Nur ganz flüchtig«, erwiderte Elsa. »Ich bin erst wenige Monate, bevor er starb, hier eingetreten. Er kam jeden Tag auch nur kurz ins Geschäft.«
»Dann hatte der Alte also freie Verfügungsgewalt«, stellte Amery fest.
»Der Alte?« Elsa verstand nicht gleich, aber dann begriff sie, daß er Maurice Tarn meinte.
»Mr. Tarn gehörte immer zur Geschäftsführung«, äußerte sie etwas steif.
»So, Mr. Tarn gehörte immer zur Geschäftsführung«, wiederholte er nachdenklich. Dann schaute er plötzlich auf. »Danke, das ist alles!«
Elsa war schon an der Tür, als er sie zurückrief.
»Was zahlt Ihnen denn die Stanford-Gesellschaft?«
Sie blickte ihn verwundert an.
»Die Stanford-Gesellschaft, Mr. Amery?«
Seine scharfen Augen ließen sie nicht los.
Dann sagte er ruhig:
»Entschuldigen Sie, ich sehe, daß Sie diese Gesellschaft nicht kennen.«
Er entließ sie mit einer Kopfbewegung, und erst als Elsa wieder an ihrem Schreibtisch saß, begann sie, sich über diese sonderbare Frage Gedanken zu machen.
Was hatte Amery nur gemeint? Sie wußte nichts von einer Stanford-Gesellschaft. Glaubte er etwa, daß sie heimlich noch für eine andere Firma arbeitete? Wenn Elsa sich mit ihrem Onkel besser gestanden hätte, wäre die Lösung dieses Rätsels nicht schwer gewesen, aber augenblicklich ging sie ihm lieber aus dem Wege.
Elsa schrieb ihr Diktat in die Schreibmaschine, als die Tür ihres Zimmers aufging. Das Mädchen schaute auf und erblickte den großen, hohläugigen Mann, dem sie gerade heute nicht begegnen wollte.
Er blieb eine Weile stehen, seine Finger spielten mit dem borstigen grauen Schnurrbart, und seine Augen waren mißmutig auf sie gerichtet. Dann kam er langsam durch das Zimmer und blieb neben ihr stehen. Mr. Tarn war außergewöhnlich groß und für den Geschäftsführer eines vornehmen Hauses sehr schäbig gekleidet.
»Wo ist Amery?« murmelte er.
»In seinem Zimmer, Mr. Tarn.«
»Hm!« Er rieb sich das unrasierte Kinn. »Hat er etwas gesagt?«
»Was denn?«
»Er wird doch irgend etwas gesagt haben!« rief Tarn ungeduldig.
Elsa schüttelte den Kopf. Sie wollte ihm schon von Major Amery s seltsamer Frage erzählen, doch dann brachte sie es nicht über sich, Maurice Tarn in ihr Vertrauen zu ziehen.
»Hast du dir noch einmal die Angelegenheit überlegt, über die ich heute früh mit dir gesprochen habe?«
Tarn schaute sie schnell an und las die Antwort auf ihrem Gesicht.
»Nein, ich - ich brauche nichts zu überlegen.«
Ihr Vormund blinzelte heftig, und sein Gesicht verzog sich gequält.
»Wohl zu alt, wie? Aber ich würde jede Vereinbarung annehmen, die du mir vorschlägst. Ich hasse es, allein zu sein. Ich brauche einfach jemanden, dem ich vertrauen und mit dem ich reden kann.
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