03 - Auf Ehre und Gewissen
Literatur, Musik und Kunst abzulegen. Was nach Eton aus ihm geworden war, wußte Lynley nicht.
Dieses Bild John Corntels vor Augen, das Teil seiner eigenen Geschichte war, sah Lynley den Mann, der Sergeant Havers keine fünf Minuten später in sein Büro folgte, mit einiger Überraschung. Nur die Körpergröße war geblieben - gut über einen Meter achtzig groß, stand er Auge in Auge mit Lynley. Aber die gerade, selbstsichere Haltung des exzellenten Etonschülers, der sich seiner Qualitäten bewußt war, hatte sich völlig verloren. Die Schultern waren gekrümmt und nach vorn gezogen, als wolle er sich vor jeder Möglichkeit körperlichen Kontakts schützen. Und das war nicht die einzige Veränderung, die mit dem Mann vorgegangen war.
Statt der jugendlichen Locken trug er sein Haar jetzt sehr kurz geschnitten, und das glänzende Schwarz war von vorzeitigem Grau gesprenkelt. Das gutgeschnittene Gesicht, dessen Züge Sinnlichkeit und Intelligenz ausgedrückt hatten, war von einer fahlen Blässe, die an Krankenzimmer denken ließ, und die Haut spannte sich gummiartig über den Knochen. Die dunklen Augen waren blutunterlaufen.
Gewiß gab es eine Erklärung für die Veränderung, die John Corntel in den siebzehn Jahren, seit Lynley ihn zum letztenmal gesehen hatte, durchgemacht hatte. Kein Mensch veränderte sich ohne schwerwiegende Ursache auf so drastische Weise.
»Lynley. Asherton. Ich wußte nicht, welchen Namen ich angeben sollte«, sagte Corntel zaghaft. Aber die Zaghaftigkeit wirkte künstlich, vorherbedacht. Er bot Lynley die Hand. Sie war heiß und fühlte sich fiebrig an.
»Ich benutze den Titel selten. Einfach Lynley.«
»Ganz nützlich, so ein Titel. In der Schule nannten wir dich den wankelmütigen Vicomte. Woher kam das eigentlich? Ich erinnere mich nicht mehr.«
Lynley wollte keine Erinnerungen. Sie drohten verschlossene Türen zu sprengen. »Vicomte Vacennes.«
»Richtig. Der Zweittitel. Eine der Freuden, die man als ältester Sohn eines Earl genießt.«
»Allenfalls eine zweifelhafte Freude.«
»Vielleicht.«
Lynley beobachtete, wie Corntels Blick durch das Zimmer schweifte, von den Schränken und Regalen voller Bücher zum unordentlichen Schreibtisch und den beiden Bildern an der Wand, die Szenen aus dem amerikanischen Südwesten darstellten. Er blieb schließlich an dem einzigen Foto hängen, das im Zimmer stand, und Lynley wartete auf einen Kommentar. Corntel und Lynley waren beide mit Simon Allcourt-St. James zusammen in Eton gewesen, und da diese Fotografie von ihm mehr als dreizehn Jahre alt war, würde Corntel zweifellos das triumphierende Gesicht des wild zerzausten jungen Cricketspielers erkennen, der hier in zerrissener Hose, die Ärmel seines Pullovers über die Ellbogen hochgeschoben, einen Schmutzfleck auf dem Arm, in der ungetrübten, strahlenden Lebensfreude der Jugend eingefangen war. Auf seinen Cricketschläger gestützt, stand er da und lachte in reinem Entzücken. Drei Jahre danach hatte Lynley ihn zum Krüppel gefahren.
»St. James.« Corntel nickte. »Ich habe seit Jahren nicht mehr an ihn gedacht. Lieber Gott, wie die Zeit vergeht.«
»Ja.« Lynley betrachtete den alten Schulkameraden aufmerksam, sah, wie sein Lächeln aufblitzte und wieder verschwand, wie seine Hände zu den Jackentaschen glitten und sie flachklopften, als wolle er sich des Vorhandenseins irgendeines Gegenstands vergewissern, den er vorzulegen beabsichtigte.
Sergeant Havers machte Licht, um die Schatten des späten Nachmittags zu vertreiben. Sie sah Lynley an. Bleiben oder gehen? fragte ihr Blick. Er wies mit dem Kopf auf einen der Sessel. Sie setzte sich, griff in ihre Hosentasche, zog eine Packung Zigaretten heraus.
»Rauchen Sie?« Sie bot Corntel die Packung an. »Der Inspector hat sich entschlossen, auch diesem Laster zu entsagen, und ich rauche nicht gern allein.«
Corntel schien überrascht, daß sie noch im Zimmer war; doch er nahm ihr Angebot dankend an und zog ein Feuerzeug heraus.
»Ja. Ich nehme gern eine. Danke.« Sein Blick schweifte zu Lynley und wieder weg. Er drehte die Zigarette in der Hand. Flüchtig biß er sich auf die Unterlippe. »Ich bin hergekommen, weil ich dich um deine Hilfe bitten möchte, Tommy«, sagte er hastig. »Ich hoffe, du kannst etwas tun. Ich bin in ernsten Schwierigkeiten.«
2
»Ein Junge ist aus der Schule verschwunden, und ich bin sein Hausvater. Ich bin also für ihn verantwortlich. Wenn ihm etwas passiert ist ...«
Corntel erklärte in knappen Worten,
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