0315 - Wenn der Totenvogel schreit
…«
»Und?«
Jeff hob die Schultern. »Ich sah noch einen großen Schatten. Der war so schnell. Er… er huschte dicht an der Scheibe vorbei und war einfach weg.«
»Hast du seinen Weg weiterverfolgt?«
»Wie meinst du das, Dad?«
»Ist er von links nach rechts oder von rechts nach links gekommen?«
»Weiß ich nicht mehr, Dad. Ich hatte nur so eine schreckliche Angst.«
Harry Finley lächelte. »Natürlich, mein Kleiner, das kann ich verstehen.«
»Hast du auch Angst, Dad?«
Finley war kein Typ, der irgendwelche Gefühle vor seinem Kind verbarg. »Ja, Jeffy, auch ich habe Angst. Das ist mir nicht geheuer.«
Er drehte sich wieder um und schaute nach draußen. »Ich werde noch mal nachsehen, ob ich ihn entdecken kann.«
Diesmal beugte sich der Mann weiter vor. Lucy hatte Angst, dass er das Gleichgewicht verlieren könnte, deshalb warnte sie. »Gib acht, Harry.«
»Klar.«
Iiiuuuuhhhh…
Jeder von ihnen hörte plötzlich das unheimliche Heulen. Es war ganz in der Nähe aufgeklungen, und obwohl sie es bereits kannten, erschraken sie doch.
Harry so heftig, dass er zurückzuckte, nicht achtgab und sich den Kopf an der oberen Fensterkante stieß. Er fluchte dabei, doch die Furcht war weiterhin da, sie nistete in seinen Augen, als er sich umdrehte und den Rest seiner Familie anschaute.
Und wieder der unheimliche Laut, der, wie von Flügeln getragen, durch die Nacht schwang.
Iiiuuuuhhhh…
Die drei standen im Zimmer und schauten sich an. Ein jeder verspürte die Gänsehaut auf seinem Körper, die nicht nachlassen wollte und immer stärker wurde.
»Das ist doch nicht normal«, hauchte Lucy. Sie hatte sich als erste gefangen.
Ihr Mann nickte nur.
Es dauerte eine Weile, bis sich die drei wieder trauten, zum Fenster zu schauen.
Der Mann ging noch einen kleinen Schritt vor. Das Jaulen hatten sie alle vernommen, und sie wussten auch, das noch etwas folgen würde.
In der Tat war dies so.
Zunächst einmal klangen die Geräusche noch weiter entfernt auf.
Es war ein Klatschen und Brausen, das sich verstärkte und die Menschen in seinen Bann brachte. Es traute sich niemand, das Fenster wieder zu schließen.
Dann sahen sie ihn.
Unheimlich, drohend, gefährlich.
Ein Schatten war da. Er huschte herbei, begleitet vom satten Klatschen der Flügel, und für einen winzigen Moment sahen die Menschen ein glühendes Augenpaar.
Es schaute in das Zimmer und war im nächsten Augenblick verschwunden.
Lucy presste die Hände gegen die Brust. »Der Totenvogel«, hauchte sie. »Jetzt ist er wieder unterwegs…«
»Und es wird jemand sterben«, fügte ihr Mann mit dumpfer Stimme hinzu…
***
Der Titel des Films sagte eigentlich alles. Er hieß »Nachtgespenster«.
Ein Gruselfilm, also.
Normalerweise sehe ich mir keine Horror-Streifen an. Schon gar nicht die Streifen, die kaum einen Inhalt haben und nur aus einer Aneinanderreihung von Grausamkeiten bestehen, aber was war schon bei Sarah Goldwyn alles normal.
Nichts, wenn man von der Regel ausging.
Sie war eine Frau von knapp siebzig Jahren, ihr wahres Alter verschwieg sie immer und behauptete, sie sei so jung, wie sie sich fühle. Und Sarah Goldwyn hatte ein außergewöhnliches Hobby.
Horror!
Stammleser wissen längst Bescheid. Die mehrfache Witwe Sarah Goldwyn sammelte alles, was im entferntesten mit Horror und Fantastik zu tun hatte.
Es blieb nicht beim Sammeln. Sie ging auch in Ausstellungen, sah sich Filme an und hatte im ausgebauten Dach ihres Hauses eine regelrechte Horrorthek eingerichtet. Was es dort an Büchern, Background-Material und Filmen über dieses Thema gab, konnte man schon als unwahrscheinlich beschreiben.
Ich profitierte von ihrem Wissen, und oft genug, wenn mich bohrende Fragen quälten, setzte ich mich mit Lady Sarah in Verbindung, um mich von ihr beraten zu lassen.
Dass sie den Spitznamen Horror-Oma bekommen hatte, lag auf der Hand. Und sie fühlte sich wohl dabei. Es gab wohl kaum eine Frau, die so wenig Zeit hatte wie sie.
Leider war sie noch sehr abenteuerlustig. Ich hatte mit ihr schon die haarsträubendsten Fälle erlebt, an die ich nur mit Schaudern zurückdachte.
In der letzten Zeit allerdings war es etwas ruhiger um sie geworden, das änderte sich, als sie anrief und mich darum bat, sie ins Kino zu begleiten.
Davon war ich nicht begeistert gewesen. Erst der letzte Fall hatte mich mit einem ähnlichen Thema konfrontiert. Mit den perversen Auswüchsen des Video-Booms. Es war in Deutschland gewesen, und ich hatte einen jungen Mann
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