0327 - Wer die Blutfrau lockt
immer weiter zurück und verschwand schließlich in der Schwärze der Nacht.
Die Lippen der vier Gothics flüsterten immer noch leise Gebete, als sie die U-Bahn erreicht hatten und der Zug unter den Straßen von London ratterte.
Sie brachten Joe in ein Krankenhaus und stießen mit ihrer Erzählung überall auf Unverständnis. Nicht nur bei den Ärzten, die Joe mit einer Bluttransfusion das Leben retteten und ihn für einige Tage zur stationären Behandlung einwiesen sondern auch die Polizei, die diesen Vorfall als Hirngespinst abtaten.
»Sicher eine Ausrede, um einen Bandenkrieg zu verschleiern oder den Verdacht zu zerstreuen, daß die Verletzung durch eine Schlägerei entstand, bei der Messer benutzt wurden!« las Marenia Melford im Polizeibericht.
Danach stellte sich ohnehin alles anders dar. Doch Marenia besuchte nach Feierabend das Mädchen, das sich Ratta nannte und erfuhr die ganze Geschichte, wie sie sich zugetragen hatte. Allerdings war Ratta nicht bereit, mitzukommen und Marenia in der Nacht das Grab zu zeigen. Sie beschrieb ihr die Lage ganz genau, nicht ohne Marenia eingehend zu warnen.
»Meine Freunde und ich haben genug von Grüften und Friedhöfen!« erklärte sie dann. »Joe ist gerade noch mal davongekommen. Niemals wieder werden wir uns mit den Wesen der Jenseitswelt abgeben. Und das sollten Sie auch nicht tun, wenn Ihnen ihr Leben und das Heil Ihrer Seele was wert sind!« sagte sie noch. Und deshalb schritt Marenia Melford in dieser Nacht, als der Vampirmond über London glühte, alleine über den Northwood-Friedhof der Gruft von Lord Edward of Rutherford zu…
***
Der helle Schein von Marenias leistungsfähiger Taschenlampe leuchtete die Mauer der verfallenen Friedhofskapelle ab. Sie blickte auf die Uhr. Am Ufer der Themse hatten die Leute vom Big Ben bereits die Mitternacht schlagen gehört. Marenia war spät dran. Eine Zeitlang erwog sie, ob das Unternehmen in dieser Nacht nicht zu gefährlich war.
Sie hatte zu lange Zeit benötigt, um sich mit Ratta zu unterhalten und den Pfahl zu schnitzen. Auch die anderen Dinge hatte sie nicht gerade griffbereit wie eine professionelle Geisterjägerin.
»Geh zurück, du Närrin!« redete eine innere Stimme zu Marenia. »Ruf Oberinspektor Sinclair an und erzähl ihm den Fall. Der Mann hat Erfahrung. Für den ist das reine Routine. Stürz dich nicht selber in ein Abenteuer, dessen Ausgang du nicht kennst und leg dich mit Kräften an, deren Stärke du nicht ermessen kannst!« Marenia Melfords Schritt stockte. Fast war sie bereit, umzukehren. Aber da war die Stimme ihrer eigenen Eitelkeit.
»Na, wirst du jetzt feige und hast Angst, in der Nacht auf einen Friedhof zu gehen?« sagte ihr anderes ›Ich‹ spöttisch. »Und du wolltest hier einen Vampir vernichten? Um einen Erfolg bei Sinclair vorweisen zu können, damit du in die Phalanx der Männer und Frauen aufgenommen werden kannst, die den großen Kampf gegen die Gewalten der Hölle führen. Geh nach Hause, setz dich vor den Fernseher und sieh dir ›Dallas‹ an - da kann dir nichts passieren. Oder schmökere einen Liebesroman. Das paßt besser zu dir!«
»Und jetzt erst recht«, preßte Marenia tonlos über die Lippen. Im selben Moment zuckte sie zusammen. Der Leuchtkegel der Taschenlampe wanderte über die Stelle, wo die Tür zur Gruft hinunter offen stand. Genauso, wie Ratta es erzählt hatte. Marenia atmete tief durch. Dann kämpfte sie sich durch die Ranken des Gestrüpps zur Tür an der Mauer der alten Kapelle.
Sie spürte in ihrer Hast nicht, wie der dünne Faden, an dem sie das schmucklose Holzkreuz um den Hals trug zerriß und der beste Schutz gegen die Mächte des Bösen zu Boden fiel. Sie war eigenartig erregt, als sie langsam die Stufen zur Gruft hinab ging.
Von innen war kein Geräusch zu vernehmen. So leise es ging, schlich sich Marenia hinunter. Die Kerzen am Sarkophag waren wieder erloschen. Doch der schwere Deckel lag noch neben der mächtigen Totentruhe aus Stein.
Mit zitternden Händen öffnete Marenia den Koffer und nahm den angespitzten Holzpfahl heraus. In diesem Augenblick ging alles rasend schnell.
Mit einem grauenvollen Schrei sprang der Vampir aus dem Sarkophag. Marenia kreischte auf, als das Wesen der Nacht mit der Raserei eines schwarzen Panthers angriff. Sie spürte seinen festen Griff, der ihren Körper umschlang.
Die eisige Totenkälte des Vampirs griff bis an ihr Herz.
Instinktiv schloß Marenia die Augen, als der Vampir sie mit seinen glühenden Augen bannen
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