036 - Die Hand des Würgers
hinunterzuklettern. Und es donnerte viel stärker, denn das Gewitter war direkt über ihnen.
Renaud lachte in sich hinein und streckte sich genießerisch. Kein Mädchen wagte sich allein in ein solches Gewitter hinaus. Loulou würde gerne wieder neben ihm ins Heu kriechen. Er konnte es abwarten.
Die Scheune gehörte einem Großbauern, Monsieur Velier, der auch Bürgermeister war. Sie lag mit dem dazugehörigen Silo ungefähr einen Kilometer vom Dorf entfernt. Der Weg schlängelte sich durch Wiesen und Felder und lief ein Stück an den Teichen entlang. Wenn es so in Strömen regnete wie eben jetzt, dann wagte man sich besser nicht hinaus, weil man nirgends eine Möglichkeit fand, die einem ein wenig Schutz bot.
Loulou schien ihren Anfall schlechter Laune schon zu bedauern, weil sie noch auf der Leiter stand und ihre Kleider in Ordnung brachte. Wahrscheinlich wollte sie nur von Renaud zurückgerufen werden, aber der Schlaukopf hatte beschlossen, sie noch eine ganze Weile zappeln zu lassen.
Er lag auf dem Bauch im weichen Heu, kaute an einem trockenen Grashalm herum und sah dem hübschen Mädchen zu.
Aber sie durfte das Gesicht nicht verlieren.
„Also dann … Auf Wiedersehen, Renaud“, sagte sie schließlich.
„Wiedersehen, Loulou.“
Sie zog eine hochmütige Schnute, hob die Schultern und kletterte die Leiter hinunter. Rechts davon war die Scheunentür.
Sie schob die schwere Tür auf und schaute hinaus. Sie wußte ja, daß es regnete und war daher nicht überrascht. Aber gleich darauf tauchte ein greller Zickzackblitz den Scheunenvorplatz in helles Licht, und dann herrschte wieder kohlschwarze Nacht.
Loulou wich entsetzt zurück und tat einen lauten Schrei. Sie zitterte schrecklich und bekreuzigte sich. Renaud sah darin ein günstiges Zeichen. Er rutschte den Heuhaufen herunter und nahm sie in die Arme, um sie zu beruhigen. Sie lag ganz schlaff in seinen Armen.
Das machte ihm Angst. Die kräftige, lustige Loulou ließ sich nicht einmal durch zärtliches Streicheln und kleine Küsse aus ihrer zitternden Apathie reißen, obwohl er eifrig versuchte, sie die Angst vergessen zu machen.
„Was hast du denn, Liebling?“ fragte er immer wieder besorgt.
„Oh, Renaud, ich habe Angst. So große Angst!“
„Das ist nur das Gewitter. Aber hier sind wir doch absolut in Sicherheit. Komm doch, Liebling.“
Er zog sie wieder in das Heu. Sie wehrte sich nicht, aber sie zitterte noch immer, als er sie an sich zog.
„Komm, kleine Loulou. Du tust ja, als hättest du noch keinen Blitz gesehen.“
Dieser Beruhigungsversuch nützte auch nichts. Jetzt schlotterte sie buchstäblich. Und dazu erschien ihm die Luft in der Scheune plötzlich stickig und überhitzt.
„Beruhige dich doch wieder, Liebling.“
„Renaud, ich habe etwas gesehen!“
„Was denn? Einen Blitz? Nun ja, das Gewitter ist ja jetzt direkt über uns. Der Regen wird gleich in einen Wolkenbruch übergehen. Aber das schadet nichts. Seit mehr als zwei Wochen hat es nicht einen Tropfen geregnet, und die Erde ist staubtrocken. Eigentlich sollte es ein paar Stunden lang so weiterregnen. Wäre recht gut.“
„Renaud, als es so blitzte“, stammelte sie. „Es war sehr dunkel draußen, ganz schwarze Nacht.“
„Und nur deshalb hast du so Angst? Du übertreibst, Loulou.“
„Nein, ganz bestimmt nicht. Schau doch selbst hinaus.“
Er legte seinen Arm um ihre Taille und zog sie an sich.
„Weißt du, jetzt hab ich was viel Besseres zu tun als in die Nacht hinauszuschauen“, flüsterte er ihr zärtlich ins Ohr.
Aber Loulou blieb trotz seiner Versuche völlig teilnahmslos.
„Renaud! Dieser Mann ohne Hand. Er ist draußen.“
Renaud riß es in die Höhe.
„Wer? Pascal? Hast du ihn gesehen?“
„Ja. Ich glaube wenigstens. Nein, ich bin sogar sicher.“
„Das bildest du dir nur ein, Loulouchen. Was sollte er jetzt in diesem Wolkenbruch hier zu suchen haben?“
„Weißt du, Renaud, seit diesem Unfall. Man hat schon früher nie gewußt, was in seinem Dummkopf vorgeht, und jetzt erst recht nicht.“
Er flüsterte ihr wieder Zärtlichkeiten ins Ohr, um sie abzulenken, aber Loulou schien nicht die geringste Lust zu haben, seinen Gefühlen nachzugeben. Renaud, der wußte, wann etwas zu machen war und wann nicht, beschloß nun doch, wenigstens für den Moment auf sie einzugehen.
Sie sprachen über Pascal, den armen Pascal, der im Sägewerk gearbeitet und dabei die rechte Hand in die Kreissäge gebracht hatte. Zwei Monate war er im Krankenhaus
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