037 - Die seltsame Gräfin
halbem Bewußtsein bemerkt hatte, nahm ihren Arm und führte sie langsam auf die dunkle Straße. Er öffnete den Schlag eines Wagens, und bevor sie wußte, was geschah, hatte sich das Auto schon in Bewegung gesetzt. Sie fühlte eine grenzenlose Abgespanntheit - und schlief wieder ein.
Sie erwachte davon, daß ihr Kopf gegen den Führersitz stieß. Die Dämmerung war schon nahe.
»Wo sind wir?« fragte sie.
Es interessierte sie nicht, wer der Chauffeur war, aber als er sich umwandte, erkannte sie das Gesicht Chesney Prayes.
»Es ist schon alles in Ordnung, Miss Reddle«, sagte er mit einem Grinsen, das seine Zähne zeigte. »Ich fahre Sie aufs Land.«
Sie zog die Stirn kraus und versuchte sich über die Ereignisse der letzten Nacht klarzuwerden. Als sie sich an ihre Verhaftung erinnerte, wurde sie plötzlich wieder ganz wach. Aber bevor sie weiterfragen konnte, gab er ihr über die Schulter hinweg schon eine Erklärung.
»Lady Moron dachte, es sei besser, wenn Sie diesem Bluthund einmal ein oder zwei Tage aus dem Gesicht kämen. Er hat eine Abneigung gegen Sie, und er ist ein rachsüchtiger Kerl.«
»Mr. Dorn?« fragte sie. »Warum ließ er mich festnehmen? Ich weiß doch gar nicht, wie Braime verletzt wurde.«
»Natürlich wissen Sie es nicht«, sagte er beruhigend. »Aber er hat sich nun eben auf diese Weise gerächt.«
An wem er sich auf diese Weise gerächt hatte, erklärte Chesney nicht, und selbst Lois schien es in ihrem abgespannten Zustand doch etwas unlogisch, daß Michael Dorn sie hatte festnehmen lassen, um sich an Praye oder an der Gräfin zu rächen.
Der Wagen fuhr einen Hügel hinab. Unten sah sie das glitzernde Wasser eines Flusses, der sich in vielen Windungen durch die Gegend schlängelte, den grauen Rauch, der von den kleinen Häusern im Tal aufstieg. Die Straße war schmal und uneben, kaum mehr als ein Feldweg. Sie wunderte sich, warum sie hier entlangfuhren, denn sie erblickte nicht weit entfernt eine breite Chaussee, die fast genau mit ihrer Fahrtrichtung parallel lief.
»Wir sind gleich da.«
Sie erreichten den Ausgang eines Tales. Ihr Weg führte unerwartet in eine dichtbestandene Baumpflanzung, wandte sich dann in rechtem Winkel, kreuzte einen gewöhnlichen Feldweg, und fünf Minuten später sah sie eine lange, graue Mauer, die ein breitgelagertes, mit einem niedrigen Dach gedecktes Gebäude umschloß.
An der anderen Seite des Hauses lief eine Straße entlang, und sie wunderte sich aufs neue, daß sie ihr Ziel nicht auf einem besseren Weg erreicht hatten. Offensichtlich erwartete man sie, denn das unansehnliche Tor wurde aufgestoßen, und sie fuhren in einen schmutzigen Bauernhof ein. Ein halbes Dutzend Hühner gackerte durcheinander, und aus einem zerfallenen Stall hörte man das Grunzen eines Schweines.
»Wir sind angekommen«, sagte er, brachte den Wagen zum Stehen und sprang heraus. Das Mädchen schaute sich erstaunt um und sah ein langes, heruntergekommenes Bauernhaus. Von den Fenstern, die man von hier sehen konnte, waren nur zwei gesäubert, die anderen starrten von jahrealtem Schmutz. Links erhob sich eine niedrige, höhlenartige, düstere Scheune, deren Tore halb zerbrochen in den rostigen Angeln hingen und sich wahrscheinlich überhaupt nicht mehr bewegen ließen. Sie war leer, nur ein alter, verrosteter Pflug und das Gestell eines zerbrochenen Bauernwagens ohne Räder standen auf der Tenne. Überall sah man schlimmsten Verfall, und obwohl sie das Gebäude nur oberflächlich betrachtete, bemerkte sie, daß das eine Ende des Daches fast keine Ziegel mehr trug.
»Dies ist doch nicht etwa der Landsitz von Lady Moron?« fragte sie.
»Nein, es ist ein kleines Besitztum, das einem unserer Freunde - ich meine einem ihrer Freunde gehört. Sie haben doch Dr. Tappatt bei ihr getroffen?«
»Dr. Tappatt?« Sie runzelte die Stirn. Das war der merkwürdige, unsaubere Arzt mit der großen Nase, der im Palais am Chester Square am Essen teilgenommen hatte.
»Ist er hier?« fragte sie, unangenehm berührt. Der letzte, mit dem sie einen Tag zusammen verbringen wollte, war dieser Mann.
»Ja - er ist hier. Er ist kein schlechter Mensch - ich kenne ihn von Indien her, und ich glaube, daß er Ihnen auch ganz gut gefallen wird.«
Offensichtlich waren sie von der Rückseite zu dem Gehöft gekommen, denn das einzig sichtbare Tor, das ins Haus führte, war verschlossen und verriegelt.
Er klopfte einige Male, bis eine Frau mit einer häßlichen, harten Stimme fragte, wer da sei. Kurz darauf
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