037 - Die seltsame Gräfin
Männern und Frauen, die sich schnell und notdürftig bekleidet hatten.
»Ist ein Unglück geschehen, Mylady?«
»Es ist nichts passiert«, sagte sie scharf. »Warten Sie draußen!«
»Nein, gehen Sie nicht fort«, rief Selwyn mit erhobener Stimme.
Noch einmal gelang es der Gräfin, sich Ruhe zu verschaffen. Sie schaute zu dem Mädchen auf der Galerie empor.
»Reden Sie meinem Sohn das dumme Zeug aus. Das ist das Beste, was Sie tun können. Die Sache wird morgen in Ordnung gebracht.«
Immer mehr Leute kamen in den Saal.
Selwyn war zu Mrs. Pinder getreten, die auf einem Stuhl saß und am ganzen Körper zitterte. Er stützte sie und führte sie hinaus. Die Leute machten ihnen Platz. Im nächsten Augenblick war Lizzy Smith bei ihnen.
Die Gräfin von Moron ging in ihrem Ankleideraum auf und ab. Sie hatte die Hände auf den Rücken gelegt. Die ruhige, kühle Frau war nervös und erregt. Chesney Praye und Tappatt hatte sie im Musikzimmer zurückgelassen. Vor wenigen Minuten war der Wagen abgefahren, der Mary Pinder dem Glück und der Freiheit entgegenbrachte.
Die Gräfin fühlte einen heftigen Zorn gegen ihren eigenen Sohn, den sie seit seiner Geburt gehaßt hatte, am meisten aber gegen Chesney. Sie hatte keine Hoffnung mehr, daß sich das Glück noch einmal zu ihren Gunsten wenden könnte. Alles, wofür sie gekämpft hatte, alles, was sie gewonnen hatte, zerrann nun in nichts! Die Stunde der Vergeltung war gekommen.
Sie suchte den Fehler zu entdecken, den sie in ihrem Plan gemacht hatte. Irgendeine Kraft hatte gegen sie gearbeitet - Dorn war doch nur das Werkzeug. Welche unbekannte, heimliche Macht stand hinter ihm? Sie bewunderte ihn jetzt doch in seiner Art.
Langsam öffnete sie einen kleinen Geheimschrank in der Mauer, der durch ein silbernes Barometer verdeckt wurde, zog einen kleinen Kasten heraus und schüttete den Inhalt auf den Tisch. Es war ein gefaltetes Stück Briefpapier und ein Schlüssel. Dann holte sie aus dem hinteren Teil des Schrankes noch eine kleine automatische Pistole hervor, nahm sie aus dem Lederetui und überzeugte sich, daß sie geladen war.
36
Der alte Mackenzie ging in Lizzys Küche, um mehr Kaffee zu kochen. Da hörte er draußen ein Klopfen.
»Es ist jemand an der Tür, Fräulein«, rief er Lizzy zu, »seien Sie doch so gut und öffnen Sie für mich.«
Lizzy hatte sich inzwischen frischgemacht und sah wieder schmuck und niedlich aus. Sie eilte die Treppe hinunter, nahm immer zwei Stufen auf einmal und riß die Tür auf. Zuerst erkannte sie den Herrn nicht, der vor ihr stand; aber dann war sie vor Schreck fast sprachlos.
»Ich möchte Miss Reddle sprechen«, sagte Mr. Shaddles.
Lizzy trat verwirrt zur Seite und folgte dem Anwalt die Treppe hinauf. Die Tür zu Mackenzies Wohnung stand offen, und als sie in das Zimmer traten, wurde es plötzlich still. Mr. Shaddles schaute von einem zum anderen und lächelte.
Lois, die neben ihrer Mutter an dem Tisch saß, stand erstaunt auf.
»Mr. Shaddles -«
Er nickte. Auf einmal wurde ihr klar, daß er zu den Leuten gehören mußte, die der Unterstaatssekretär damals erwähnt hatte.
»Sie waren es also -«
»Ja, gnädiges Fräulein, ich war es. Wir sind seit Jahrhunderten die Advokaten der Morons, und so habe auch ich mich bemüht, die Interessen der Familie wahrzunehmen. Niemand kennt bis jetzt die Zusammenhänge - bis jetzt. Aber es ist keine lange Geschichte, die ich zu erzählen habe - gestatten Sie?« Er wandte sich an Mrs. Pinder. Sie nickte.
»Der verstorbene Graf von Moron heiratete zweimal«, begann Shaddles. »Aus erster Ehe stammte sein Sohn William. Selwyn, der heute abend hier weilt, ist der Sohn der zweiten Frau. William war ein hochbegabter, ehrenhafter junger Mann, der in einem Hochländerregiment diente. Er war etwas romantisch veranlagt, und als er Mary Pinder traf, war es natürlich -«
»Mary Pinder?« rief Lois. Aber Shaddles überhörte die Unterbrechung. »- daß er sich in sie verliebte. Mary Pinder war damals ein schönes Mädchen von siebzehn oder achtzehn Jahren. Er liebte es, Fußtouren zu machen, und kam auch durch Hereford, und zwar nicht unter seinem eigenen Namen Viscount Craman, sondern als Mr. Pinder. Dies war der Mädchenname seiner Mutter. Er traf Mary mehrere Male, ohne ihr zu sagen, wer er war, und heiratete sie mit besonderer Erlaubnis unter dem Namen Pinder. Er wollte ihr seinen Stand und seine Würde erst nach der Hochzeit enthüllen.
Sie hatten etwa einen Monat zusammengelebt, als er
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