Tiefer - Im Sog der Lust (German Edition)
1. KAPITEL
Jetzt
Das Meer war das gleiche geblieben. Sein Klang und Geruch hatten sich nicht verändert, genauso wenig wie die heranbrandenden und wieder ablaufenden Wellen. Vor zwanzig Jahren hatte Bess Walsh an diesem Strand gestanden und sich auf den Rest ihres Lebens gefreut, und jetzt …
Jetzt war sie nicht sicher, ob sie bereit war für das, was vor ihr lag.
Jetzt stand sie hier, der kalte Sand rieb an ihren nackten Zehen, und die salzige Luft spielte in ihrem Haar. Sie atmete tief ein. Dann sperrte sie die Nacht mit der Dunkelheit hinter ihren Lidern aus und verlor sich in der Vergangenheit, damit sie nicht über die Zukunft nachdenken musste.
Die Nachtluft im späten Mai war immer noch kühl, vor allem, wenn man so nah am Wasser stand und nur mit einem dünnen T-Shirt und einem Jeansrock bekleidet war. Ihre Brustwarzen drückten gegen den Stoff, und sie schlang die Arme um ihren Oberkörper, um sich ein wenig zu wärmen. Es schien angemessen zu zittern, während sie sich an diesen so lange zurückliegenden Sommer erinnerte. Sich an ihn erinnerte. Zwanzig Jahre lang hatte sie versucht zu vergessen, doch nun war sie wieder hier, und das Vergessen fiel ihr schwerer als jemals zuvor.
Bess wandte ihren Kopf in den Wind, der ihr das Haar aus dem Gesicht blies. Sie öffnete den Mund, um ihn zu trinken, zu essen, als wäre er ein süßes Bonbon. Der Geruch füllte ihre Nase und bedeckte ihre Zunge. Er zog sie effektiver in die Vergangenheit zurück, als es eine einfache Erinnerung gekonnt hätte.
Wie albern. Sie war zu alt, um an Märchen zu glauben. Es gab keine Zeitreisen. Keine Möglichkeit zurückzukehren. Nicht einmal eine Möglichkeit zu bleiben, wo sie war. Ihre einzige Option, jedermanns einzige Option war es, immer weiterzugehen.
Mit diesem Gedanken ging sie vorwärts. Einen Schritt, dann noch einen. Ihre Füße versanken im Sand, und über die Schulter warf sie einen Blick zurück auf die Sicherheit ihrer Terrasse und der einzelnen Kerze, die dort brannte. Der Wind brachte die Flamme zum Flackern, und sie wartete darauf, dass sie ausging, aber in der Geborgenheit ihres Glasgefäßes blieb sie brennen.
Damals hatte das Haus hier ganz alleine gestanden. Nun wurde es von Nachbarn flankiert, die nah genug dran waren, um sie zu treffen, wenn man in die richtige Richtung spuckte, wie ihre Großmutter gesagt hätte. Vier Stockwerke Millionen Dollar teurer Architektur reckten sich drohend hinter ihrem Häuschen auf. Mit Seegras bewachsene Dünen, die vor zwanzig Jahren noch nicht da gewesen waren, erhoben sich zwischen Haus und Strand. Und auch wenn in einigen entfernten Fenstern Lichter leuchteten, lagen die meisten Häuser so früh in der Saison noch im Winterschlaf.
Das Wasser würde zu kalt zum Schwimmen sein. Weiße Haie könnten in ihm lauern. Die Unterströmung wäre stark. Bess ging trotzdem nah heran, gezogen von Erinnerungen und ihrer Sehnsucht.
Am Meer war sie sich ihres Körpers und seiner Zyklen immer bewusster gewesen. Mit seiner engen Verbindung zum Mond, schien der Wandel der Gezeiten so weiblich zu sein. Niemals schwamm sie im Meer, aber in seiner Nähe fühlte sie sich sinnlich und lebendig, wie eine Katze, die sich an einer wohlmeinenden Hand reiben wollte. Das warme Wasser auf den Bahamas, die kalten Wellen des Atlantiks bei Maine, der sich sanft kräuselnde Golf von Mexiko, das göttliche Blau des Pazifiks hatten sie gerufen, aber zu keinem von ihnen fühlte sie sich so stark hingezogen wie zu diesem kleinen Flecken Wasser und Sand.
Zwanzig Jahre später war die Anziehung stärker denn je.
Ihre Füße fanden den hart gepressten Sand, den die letzte Welle zurückgelassen hatte. Sie grub ihre Zehen in seine Kälte. Hier und da glitzerte eine weiße Schaumkrone auf, aber bisher erreichten sie Bess noch nicht. Sie machte einen schleppenden Schritt, ließ ihre Füße ihr den Weg zeigen, damit sie nicht unerwartet auf einen scharfen Stein oder eine Muschel treten würde. Ein weiterer Schritt nach vorne brachte sie auf noch feuchteren Sand. Beinahe matschig. Die rauschenden Wellen sprühten einen feinen Nebel in die Luft, und sie öffnete ihren Mund für ihn, wie sie es vorhin für den Geruch getan hatte.
Als das Wasser endlich ihre Füße berührte, war es nicht kalt. Die Wärme war schockierender, als die Kälte es gewesen wäre, und Bess schnappte nach Luft. Bevor sie einen weiteren Schritt machte, kam eine neue Welle. Wärme wirbelte um ihre Fußgelenke und spritzte an ihren nackten
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