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04 - Winnetou IV

04 - Winnetou IV

Titel: 04 - Winnetou IV Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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Eines der größten und gewaltigsten Gleichnisse, die Manitou uns predigt, liegt hier vor unseren Augen. Betrachten wir es!“
    Er trat mit Algongka bis an den Rand der Plattform vor. Ich folgte ihnen mit dem Herzle, die ihren Arm in den meinen gelegt hatte und mir durch einen leisen Druck ein Zeichen gab, welches ich sehr wohl verstand. Wir haben fast immer einen und denselben Gedanken miteinander. Auch jetzt fühlte sie ebenso wie ich den Grund, weshalb der Häuptling grad diese Worte sprach und keine anderen. Er beabsichtigte, uns zu examinieren, wenn auch nur durch eine einzige Frage. Der Erfolg dieses Examens sollte entscheiden, wie wir zu behandeln seien, ob als gewöhnliche, ganz alltägliche Menschen oder nicht. Denn das, was ich am Grab des großen Seneca-Redners gesagt hatte, konnte ich irgendwo gelesen oder sonstwie aufgeschnappt und mir gemerkt haben, um es bei passender Gelegenheit mit Vorteil an den Mann zu bringen. Das war es, was meine Frau mir durch den Druck ihres Armes sagen wollte, und dadurch, daß ich dieses ihr Zeichen durch einen ebenso leisen Druck erwiderte, teilte ich ihr mit, daß ich sie verstanden habe und auf das Examen vorbereitet sei.
    Wir standen wohl einige Minuten lang still an der Balustrade. Da hob Algongka seinen Arm, über den Abgrund hinüber nach den stürzenden Fluten zeigend, und sagte:
    „Das ist ein Bild des roten Mannes. Ob wohl ein Weißer das begreift?“
    „Warum sollte er es nicht begreifen?“ fragte ich.
    „Weil es nicht sein eigenes, sondern ein fremdes Schicksal betrifft.“
    „Glaubt Ihr, daß wir Weißen nur eigene, nicht aber fremde Dinge begreifen?“
    „Nun, könnt vielleicht Ihr mir dieses Rätsel lösen?“
    „Rätsel lösen? Ihr habt nicht von einem Rätsel, sondern von einem Gleichnis gesprochen. Gleichnisse aber werden nicht gelöst, sondern gedeutet.“
    „Nun, so deutet es, bitte!“
    „Gern! Wir sehen hier die stürzende, die zerschellende und zerstäubende Flut. Aber den See, den großen See, aus dem sie kommt, den sehen wir nicht. Und auch der See, in den sie sich ergießt, ist uns unsichtbar. Beide sind unserem Auge verborgen.“
    „Wohl! Das ist das Gleichnis“, nickte Athabaska ernst. „Aber die Deutung?“
    „Die Gegenwart sieht nur den schweren, tiefen, erschütternden Fall der roten Rasse. Sein Brausen ist die Summe der Todesschreie aller derer, die da untergegangen sind und noch untergehen werden. Wo haben wir das große, das mächtige, das herrliche Volk zu suchen, dessen Kinder diese zerschmetterten und noch zu zerschmetternden sind? In welchem Land gab es dieses Volk? Und in welcher Zeit? Wir wissen es nicht, und wir sehen es nicht! Wir sehen nur, wie der eine, stürzende Strom da unten in der Tiefe in hundert und aberhundert Völker, Stämme, Herden, Rotten und Banden zerfällt, deren einer oder eine oft kaum mehr als hundert Personen zählt. So wirbelt und treibt der Fall sie weiter und weiter, bis sie verschwunden sind! Und wir hören nur die unzähligen kleiner und immer kleiner werdenden Zungen, Sprachen, Idiome, Mundarten und Dialekte, in welche der stürzende Strom in dem Wirbel des Abgrunds zermalmt, zersplittert, zermahlen, zerknirscht, zerpulvert und zerrieben wird, so daß der Sprachforscher, der sich kühn in diesen Strudel wirft, in die Gefahr kommt, ganz ebenso zugrunde zu gehen wie die, nach denen er sucht! Und wo ist das noch größere, das noch mächtigere, das noch herrlichere Volk zu finden, dem die zersprengten, zerrissenen und zerstäubten Fluten dieses sprachlichen und ethnographischen Niagara zuzuströmen haben, um sich wieder zu einem Ganzen zu vereinigen und wieder zur Ruhe und gesegneten Gesetzlichkeit, zum Beginn einer neuen, besseren Entwicklung zu kommen? In welchem Land wird es dieses Volk geben? Und in welcher Zeit? Wir wissen es nicht, und wir sehen es nicht. Wir können von dem hier niederstürzenden Fluß, der uns als Gleichnis dient, nur sagen, daß er aus dem Eriesee in den Ontariosee sich ergießt. Genau ebenso wissen wir von der hier zerstäubenden roten Rasse nur, daß sie aus der Zeit und aus dem Land des Gewaltmenschen stammt und der Zeit und dem Land des Edelmenschen entgegenfließt, um dort in neuen Ufern neue Vereinigung zu finden. Dies, Gentlemen, ist das Gleichnis und dies ist seine Anwendung!“
    Sie waren still. Wir standen noch einige Zeit, bis wir den Kellner unter der offenstehenden Tür ihrer Wohnung erscheinen sahen. Da nahm Athabaska den Arm des Herzle in den seinen und

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