043 - Der Mann von Marokko
eine andere Tonart anzuschlagen.
»Wissen Sie auch, was das für mich als seine Schwester bedeutet?« fragte sie mit etwas unsicherer Stimme. »Wissen Sie, daß mich in schlaflosen Nächten böse Gedanken quälen und ich immer in Angst leben muß, was der morgige Tag über mich bringt?«
»Es tut mir leid, daß ich darüber nicht informiert bin. Offen gesagt, Miss Hamon, habe ich kein Mitgefühl.
Wenn Sie tatsächlich so bedrückt sind und sich soviel Sorgen und Gedanken machen, so ist das bedauerlich. Sie können Ihrem Bruder die Nachricht bringen, daß ich diese Sache zu Ende führen werde. Ich habe aus allem die Konsequenzen gezogen, die gefährlicher und schrecklicher sind, als Sie sich vorstellen können, und ich bleibe dabei, bis meine Mission vollendet ist.«
»Ein Einbrecher mit einer Mission!« höhnte sie.
»Das mag allerdings in gewisser Weise belustigend sein«, meinte er gut gelaunt. Er war nun über ihren Charakter aufgeklärt. Diese Frau war keine Schauspielerin. Sie konnte nicht einmal konsequent ihre Rollen durchführen und noch weniger den Ärger über ihren Mißerfolg verbergen.
»Sie hatten noch eine Chance, Morlake«, sagte sie in aufsteigendem Groll. »Ich weiß zwar nicht, worum es sich bei dem Streit zwischen Ihnen und Ralph handelt. Aber er ist zu klug für Sie, und früher oder später einmal werden Sie das zugeben müssen. Und wenn Ralph ein Verbrecher ist - sind Sie denn etwas anderes? Gibt es denn nicht genug Arbeit in der Welt für Sie beide, ohne daß Sie sich ans Gehege kommen müssen?«
»Das haben Sie wie eine Dame von Welt gesagt«, entgegnete Jim Morlake, als er sie zur Tür führte.
25
In einer Woche hatte sich Ralph Hamons Aussehen stark verändert. Zeitweise erschien er seiner Schwester wie ein alter Mann. Er war grau geworden, und neue Falten zeigten sich in seinem düsteren Gesicht. Auch ging er gebückter. Lydia, die in ihrer Weise klug war, versuchte nicht, zu tief in die Ursachen seines Kummers einzudringen. Zu ihrem Erstaunen bekam er keinen Wutanfall, als sie ihm das Resultat ihrer Unterredung mit Morlake berichtete, sondern nahm alles mit der größten Ruhe auf. Selbst ihre Bemerkung über die Anwesenheit Joan Carstons in Wold House regte ihn nicht auf.
Am Tage nach ihrer Unterredung mit Jim ließ sie ihr Gepäck zum Bahnhof bringen. Die Fahrkarte war schon in ihrer Handtasche. Dann ging sie zum Büro ihres Bruders.
»Heute nachmittag fahre ich nach Paris zurück«, sagte sie gleichgültig. »Ich möchte ein wenig Geld haben.« Er schaute von seiner Arbeit auf.
»Wer hat dir denn gesagt, daß du nach Paris gehen sollst?« Sie tat sehr erstaunt, aber das machte nicht den geringsten Eindruck auf ihn.
»Du bleibst bis auf weiteres hier. Es ist möglich, daß wir von hier fort müssen, vielleicht schon sehr bald.«
»Was ist denn los?« fragte sie ängstlich. »Steht die Sache wirklich so schlimm?«
»So schlimm wie nur irgend möglich, wenigstens im Augenblick. Sieh einmal, Lydia«, fuhr er in liebenswürdigem, freundlichem Ton fort, »ich möchte nicht, daß du mich in diesem Augenblick allein läßt. Du mußt bei mir bleiben. Und außerdem habe ich Sadi versprochen, dich nach Tanger mitzunehmen.«
Sie erwiderte nichts, setzte sich ihm gegenüber, stemmte die Ellbogen auf den Tisch und sah ihn scharf an. »Hast du Sadi nicht noch mehr versprochen?« Er vermied es, ihr in die Augen zu sehen.
»Vor fünf oder sechs Jahren warst du sehr darauf aus, daß ich in Tanger wohnen sollte. Was hast du Sadi versprochen?«
»Nichts Bestimmtes. Du mochtest ihn doch früher ganz gern.«
»Ja, damals interessierte er mich natürlich. Jedes junge Mädchen würde sich für einen gutaussehenden Araber interessieren. Aber nach deinen letzten Erzählungen ist er mir nicht mehr hübsch genug, und außerdem habe ich mir jetzt eine gesellschaftliche Stellung erobert.«
»Ich brauche Sadi, er ist äußerst nützlich für mich. Er gehört zu einer der ersten maurischen Familien - er ist Christ - wenigstens glaubt man es von ihm - und er ist reich.« Sie lächelte verächtlich.
»Er ist so reich, daß er von dir eine vierteljährliche Unterstützung annimmt! Nein, Ralph, du kannst mich nicht hinters Licht führen. Ich weiß über Sadi Bescheid. Er ist ein verteufelt hinterlistiger Maure, und wenn du etwa glaubst, daß ich die Rolle der Desdemona spielen soll, dann täuschest du dich. Ich habe Othello nie leiden mögen. Sadi ist ganz interessant, das gebe ich zu, und er mag in
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