0456 - Der Geisterseher
voranzutreiben. Aber ein wesentlich besserer Grund waren die Süßigkeiten. Es gab eine unüberschaubare Unzahl von Dingen, die herrlich schmeckten und von denen man vor dreihundert Jahren nicht einmal hatte träumen können. Zwar achtete sein Herr immer noch darauf, daß der Gnom sich nicht zu sehr an den Süßigkeiten vergriff, und klopfte ihm dazu recht kräftig auf die schwarzen spinnenbeindürren Finger, aber immerhin: es gab diese Leckereien!
Der namenlose Gnom war sicher, daß es noch einen dritten Grund gab, die Rückkehr in die eigene Zeit nicht besonders zu forcieren. Diesen Grund teilte er bestimmt mit seinem Herrn, dem er sich gerade geräuschlos näherte. Erst als er direkt neben ihm stand, erlaubte er sich ein verhaltenes Kichern.
»Gestattet mir die Bemerkung, erhabender Herr, daß es nicht gerade von adligem Anstand zeugt, Frauen beim Bade zu beobachten.«
Don Cristofero Fuego de Zamora y Montego zuckte heftig zusammen. »Was schleicht Er heimlich wie eine Katze hinter meinem breiten Rücken heran, eh?« fauchte er den Gnom an. »Außerordentlich unziemlich dünkt's mich. Und da wagt Er es, von Anstand zu reden? Befleißige Er sich dieses Anstandes lieber zuförderst selbst, ehe ich Ihn auspeitschen lasse!«
Der Gnom kicherte abermals und verneigte sich. »Erhabener Herr, es liegt mir fern, Euch in Ungelegenheiten zu bringen, indessen konnte ich nicht widerstehen, mich zu nähern. Verzeiht mir Unwürdigem die Neugier, die mich trieb, doch sei es mir erlaubt, zu erklären, daß es ein recht appetitlicher Anblick ist, der Euer und - mit Verlaub - auch mein Auge ergötzt!«
»Red' Er nicht so geschwollen«, knurrte Don Cristofero. »Was faselt Er von jeweils einem Auge? Wenn ich mich recht entsinne, verfüge ich ebenso wie Er Dummbeutel über deren zwei.«
»So mag das Vergnügen doppelt sein«, hoffte der Gnom.
Er hatte so laut gesprochen, gewollt oder ungewollt, daß weder er noch sein wohlbeleibter Herr weiterhin unentdeckt bleiben konnten. Don Cristofero, mit Leibesfülle reichlich gesegnet, hatte hinter einem Pfeiler gestanden und zugeschaut, wie Monica und Uschi Peters im Swimmingpool ihre allmorgendlichen Runden drehten.
Natürlich hüllenlos.
Von Kleidung hatten die blonden Zwillinge noch nie viel gehalten. Und daß jemand aus einer Zeit mit wesentlich weniger freizügigen moralischen Vorstellungen aufgetaucht war, störte sie auch nicht besonders.
Monica winkte. »He, Monsieur! Gesellt Euch zu uns! Das Wasser ist kühl!«
Don Cristofero lief dunkelrot an. Er fühlte sich als Spanner ertappt. Dabei war er nicht einmal mit Absicht hier. Er hatte nur einen Erkundungsspaziergang machen wollen. Zur Zeit des Sonnenkönigs hatte ihm das Château gehört, und er arbeitete immer noch daran, zu begreifen, was sich hier im Laufe von dreihundert Jahren verändert hatte. Das Fitneß-Center mit seinen Folterinstrumenten und dem Swimmingpool hatte es damals logischerweise nicht gegeben. Auch viele andere Dinge hatten sich verändert, an die der spanische Grande sich erst gewöhnen mußte. Durch die engen Beziehungen zwischen dem französischen Königshaus und der spanischen Krone war er zu Grundbesitz an der Loire gekommen, und der Gnom, zu dem er recht freundschaftliche Gefühle hegte, ohne sie jemals zu zeigen, erfreute ihn in seiner Freizeit mit seiner Magie. Offiziell galt er als Narr, aber in Wirklichkeit hatte Don Cristofero praktisch einen Narren an ihm gefressen. Der Gnom ahnte vielleicht nicht einmal, daß er in Cristofero einen Freund, nicht einen Herrn, hatte. Doch nach außen hin mußte Cristofero als der Herr auftreten. Und aus dieser Rolle kam er einfach nicht heraus.
Auch jetzt, in der Zukunft, nicht.
»He, Don Cristofero!« Uschi Peters winkte ihm zu. »Kommt, erfrischt Euch!«
Zwei Seelen stritten in seiner Brust. Die eine Stimme riet ihm, dem Beispiel der beiden aufregend schönen nackten Mädchen zu folgen und sich ins erfrischende kühle Naß zu stürzen. Und sie sahen beide auch nicht danach aus, als würden sie protestieren, wenn sich mehr als ein erfrischendes Bad daraus ergeben würde. Dazu kam, daß auch dieser Tag schon am Vormittag wieder fast unerträglich heiß war.
Aber die andere Stimme sagte, daß es einem Mann von Adel nicht ziemlich war, sich mit Frauen aus dem einfachen Volk derlei billigem Vergnügen hinzugeben. Vom Rang her standen sie unter ihm. Außerdem war es schamlos, sich in der Öffentlichkeit unbekleidet zu zeigen. Höchst schamlos. Höchst
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