0483 - Das Girl, das zuviel wußte
erschienen war, und dann hatte sie sie doch verloren.
Vielleicht war es die Vorstellung, daß sie jetzt hier verschmutzt und mit zerrissenen Strümpfen in einem fremden Hotelzimmer stand, ohne die Möglichkeit, ihr Make-up zu erneuern oder sich umzuziehen, vielleicht war sie auch nur einfach müde.
Jedenfalls erkannte sie plötzlich, daß sie am Ende war. Die Flucht bot keinen Ausweg mehr. Es gab jetzt nur noch die Möglichkeit, den Weg nach vorn einzuschlagen und den Dingen ins Auge zu sehen.
Ruth richtete sich auf. Mit schnellen Schritten ging sie auf das Bett zu, neben dem auf einem kleinen Nachttisch das Haustelefon stand. Es war nicht an das Selbstwählnetz angeschlossen, und Ruth zögerte einen Moment, weil es ihr unangenehm war, daß der Portier ihr Gespräch mit der Polizei eventuell mithören konnte.
Aber sie wollte ihren Entschluß jetzt nicht wieder umwerfen und hob den Hörer ab.'
In dem Augenblick sagte hinter ihr eine sanfte Stimme:
»An Ihrer Stelle würde ich die Finger von dem Telefon lassen!«
Ruth zuckte zurück und fuhr herum.
In der Tür ihres Zimmers standen zwei Männer. Sie hatte die beiden noch nie gesehen.
Der eine war ein Riese mit einem breiten dummen Gesicht, wasserblauen Augen und einem wulstigen Mund, der jetzt zu einem unangenehmen Grinsen verzogen war. Aber es war der andere Mann, der Ruth einen Schrecken einjagte, und den sie sofort als den gefährlicheren erkannte. Es war der, der sie angesprochen hatte.
Er war schlank, fast hager und'hatte rötliches Haar, einen kleinen Spitzbart und sanfte rehbraune Augen. Seine schwarze Cordhose, sein schwarzes Hemd und der bunte Poncho ließen ihn wie einen Maler oder Kunststudenten wirken. Aber die dunkel schimmernde Waffe in seiner Hand bewies, daß das nur eine Art Verkleidung war.
»Was wollen Sie hier?« fragte Ruth scharf. Der erste Schreck ebbte ab. Sie war erleichtert, daß keiner der Männer einer ihrer Kollegen war. Sie hatte sich also geirrt.
»Tut mir leid, Miß, ich werde ungern einer Lady gegenüber unhöflich, aber ich fürchte, in diesem Fall wird es sich nicht ganz vermeiden lassen.« Er machte dem Riesen ein Zeichen, und der schloß hinter sich die Tür. Dann stapfte er hinter dem Sanften her auf Ruth zu.
»Bleiben Sie stehen und erklären Sie, was los ist!« rief Ruth und war selbst über die Festigkeit ihrer Stimme überrascht.
»Soll ich ihr zeigen, was los ist, Jones?« fragte der Riese.
Aber der Sanfte winkte ab.
»Nein, Bertie, sie ist doch eine kluge Lady, sie wird es zweifellos auch so verstehen.«
»Was verstehen?« fragte Ruth. Ihre Stimme begann ein wenig zu schwanken. Aber es war nicht die Waffe, deren dunkle Mündung auf sie gerichtet war, es waren vielmehr die sanften Augen des schlanken Mannes, die sie ansahen.
»Sie müssen leise sein, sonst knebeln wir Sie!« sagte Jones mit plötzlicher Geschäftigkeit und setzte sich auf das Fußende des Bettes. Bertie blieb wie ein Turm zwischen Ruth und der Tür stehen.
Ruth schwieg. Alles kam ihr so unwirklich vor. Sie wußte nicht, was die Männer von ihr wollten, aber sie wagte auch nicht mehr zu fragen. Sie wartete.
»Sie sehen ein wenig ramponiert aus«, sagte Jones mitfühlend. »Haben Sie eine kleine Bergwanderung hinter sich, oder haben Sie den Schmuck im Kanalnetz versteckt — äh?«
Ruth wich zurück, als er die letzte Silbe plötzlich laut und scharf ausspuckte.
»Welchen Schmuck?« fragte sie verdattert. Sie hatte die Männer nicht in Zusammenhang mit der Schmuckangelegenheit gebracht, aber jetzt begann wieder das inzwischen schon vertraute Gefühl der Panik in ihr hochzusteigen.
»Welchen Schmuck?« wiederholte sie noch einmal schwach. Jones lfl'hte zufrieden.
»Aha, kapiert! Nun, wie steht es? Haben Sie den alten Nachtwächter umgebracht und die Steinchen beiseite geschafft?«
Ruth schüttelte stumm den Kopf, ihre Lippen bebten so, daß sie nicht mehr sprechen konnte. Jones beobachtete sie wie ein interessantes Insekt. Langsam sagte er:
»Nein, Sie waren es nicht, ich habe eseigentlich auch nie angenommen. Don war anderer Ansicht, aber ich konnte mir nicht vorstellen, daß ein nettes Girl wie Sie…« Er brach ab und musterte sie weiter, dann senkte er den Blick, betrachtete seinen Revolver, als sähe er ihn zum erstenmal, und fragte sehr leise:
»Warum haben Sie der Polizei den Namen des Mörders nicht genannt?« Ruth schwieg. Jones sprach weiter: »Sie kennen ihn doch, wie? Sie haben ihn beobachtet, als Sie gestern nacht zufällig
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