0494 - Fenrirs Wacht
Nicole.
Jetzt war es dafür zu spät. Sie hätten nach draußen gemußt. Da aber waren die Wölfe. Und wenn das Amulett gleich wieder nicht reagierte, wurde selbst die Flucht in den Wagen zu einem Glücksspiel.
»Er war hier«, sagte Naomi leise.
»Wer? Der meneur des loups ?« fragte Nicole schnell. Varese nickte. »Er war hier«, wiederholte sie. »Er hat mir ein Geschenk gegeben. Ich wollte es nicht. Aber er hat mir ein Geschenk gegeben.«
»Was für ein Geschenk?« entfuhr es Niocle. Ein Verdacht stieg in ihr auf. Der Dämon besaß eine geradezu irrwitzige Gabe, die überhaupt nicht zu seinem schwarzblütigen Habitus passen wollte: Er konnte Menschen die Fähigkeit verleihen, Werwolfbisse zu heilen!
Ausgerechnet! Dabei mußte es doch in seinem Interesse sein, daß der Wolfskeim sich ausbreitete! Weder Zamorra noch Nicole hatten bislang verstehen können, weshalb der Dämon diese Fähigkeit an ausgewählte Personen verlieh. In der Bretagne hatte er es getan, schon vor langer Zeit, und jetzt hier wieder?
War das das Geschenk an Varese?
»Was für ein Geschenk? Warum haben Sie es nicht zurückgewiesen?« Nicole mußte die Rothaarige rütteln, um sie zu einer Antwort zu zwingen. Naomi Varese war regelrecht apathisch.
»Es ist - irgendwie in meinem Inneren«, flüsterte sie.
Da war Nicole sich sicher. Naomi Varese besaß jetzt die Gabe der Heilung von Werwolfbissen. Damit hatte der Dämon sie gewissermaßen zu einer seiner Kreaturen gemacht, und das erklärt auch, warum die Wölfe der Frau nichts getan hatten, obgleich die Tür offengestanden hatte.
»Kommen Sie, Naomi. Wir müssen irgendwie hier ’raus. Draußen steht ein Wagen«, sagte Nicole. Draußen tobten aber auch die Wölfe. Wieder krachte es. Diesmal barst die Scheibe. Der graue Räuber kam herein, ein riesiger Rachen mit spitzen Zähnen, ein tobendes, wildes Büdel berserkerhafter Kraft. Der Wolf prallte auf, blutete aus Schnittwunden, federte wieder vom Boden hoch und direkt auf Nicole zu. Sie sah alles wie in Zeitlupe, versuchte auszuweichen.
Sie schaffte es nicht. Der Wolf war zu schnell.
Er war schon über ihr, als endlich das Amulett reagierte. Grün flammte es auf, das Lodern hüllte Nicole ein. Der Wolf jaulte schrill und zuckte zurück. Knisternde Entladungen zuckten zwischen ihm und Nicole, hoben ihn förmlich an. Noch in der Luft verlor er seine Substanz, verwandelte sich in ein knurrendes und jau lendes Knochengerüst, das zur Seite stürzte und nach Moder und Verwesung stinkend noch einige Male zuckte, um dann endgültig abzusterben.
Das Leuchten des Amuletts erlosch wieder.
Nicole erhob sich. Sollte das Amulett etwa nur bei einer unmittelbaren Berührung gegen diese Bestien wirken? Von was für einer Magie wurden sie erfüllt, daß Merlins Stern kaum darauf ansprach? Das Amulett hatte sich nicht einmal erwärmt und vibrierte auch nicht, um durch diese Reaktionen, die Nähe Schwarzer Magie anzuzeigen. Die einzige Erklärung, die sich Nicole bot, war, daß die schwarzmagische Wolfsaura entweder sehr gut abgeschirmt, oder unwahrscheinlich schwach war.
Varese starrte das Wolfsgefippe mit den verwesten Fell- und Muskelfasern entsetzt an. »Mir ist kalt«, flüsterte sie zitternd und schlang die Arme eng um ihren Oberkörper. »Mir ist so furchtbar kalt…«
Kein Wunder, wenn sie den halben Tag in einem ungeheizten Raum bei offener Tür gesessen hatte; aber diese Kälte mußte auch aus ihrem Innern kommen. Der Blick, mit dem Naomi den Kadaver ansah, verriet Nicole alles. Naomi fühlte sich dem Rudel verbunden, auch wenn ihr Verstand sich dagegen wehrte.
Nicole straffte sich. »Wir müssen ausbrechen«, murmelte sie. »Bleiben Sie dicht bei mir, Naomi. Wir müssen gleich so schnell wie noch nie in unserem Leben sein, wenn wir in den Wagen steigen.« Sie hoffte, daß das Amulett sie vor den anderen Wölfen ebenso schützen würde, wie es diese Bestie abgewehrt hatte. Nicole bedauerte, daß Zamorra den Blaster bei sich hatte. Mit ein paar gezielten Laserschüssen hätte sie unter dem Wolfsspuk aufräumen können.
»Mit wie vielen Wölfen zugleich wirst du fertig werden können, Stern von Myrrian-ey-Llyrana ?« raunte sie. Das Amulett gab ihr keine Antwort. Nicole preßte die Lippen zusammen. Sie wußte, daß es hart werden würde. Aber sie mußte hindurch. Sie ahnte, daß sie nicht die Nervenkraft aufbringen würde, hier in der Hütte darauf zu warten, daß einer nach dem anderen der belagernden Wölfe hereinzukommen versuchte.
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