0504 - Lorna, die Löwenfrau
damit hatten rechnen müssen, daß Wachen aufgestellt waren. Bisher gingen wir davon aus, nicht entdeckt worden zu sein.
Eine halbe Armlänge betrug die Entfernung bis zum Rand des gläsernen Dachfensters. Wir überwanden die Distanz sehr vorsichtig, weil wir nicht in Gefahr laufen wollten, schon beim ersten Hineinschauen entdeckt zu werden.
Beide wußten wir nicht, was uns erwartete, auch Bill nicht, das sah ich seinem Gesicht an, auf dem die Spannung lag. Vor uns stieg das Licht aus dem Fenster. Es kam uns vor wie eine helle, seidige Glocke. Glücklicherweise blendete es nicht.
Ich wollte nicht neben Bill liegenbleiben und bezog ihm gegenüber Stellung. Er wartete, bis ich die Haltung eingenommen hatte.
Ich spürte ebenfalls die Spannung. Schon das Rutschen auf der widerlichen Teerpappe störte mich, dann hatte ich den Rand erreicht und beugte meinen Kopf im gleichen Augenblick vor wie Bill.
Wir schauten durch die Scheibe.
Es war kein grelles, blendendes Licht, das unsere Augen traf, mehr schleierhaft und gedämpft, so daß wir alle Details unter uns erkennen konnten.
Bill hatte mit seiner Vermutung recht gehabt. In dem Raum unter uns tat sich etwas. Ein Vorgang, der nicht gerade für die Öffentlichkeit gedacht war.
Der Blick fiel direkt auf den Löwen!
Er sah aus, als würde er leben. Erst beim zweiten Hinsehen war mit Sicherheit festzustellen, daß es sich bei diesem Tier um eine Statue handelte. Sie bestand aus Stein, hatte eine Mähne und sah aus wie echt.
Vermummte Gestalten knieten um ihn herum. Sie trugen senffarbene Kutten, die sich kaum von der Farbe der Löwenmähne unterschieden. Die Kapuzen hatten sie über die Köpfe gezogen, und sie berührten mit den Stirnen unterwürfig den Steinboden.
Ich zählte sechs Personen, auf deren gekrümmte Rücken wir hinabblickten.
Das weiche Licht floß uns aus vier Schalen entgegen. Sie standen auf dünnen Metallständern und wirkten wie breite Kelche, aus deren Innern das Licht in die Höhe strahlte.
Möbelstücke entdeckte ich keine.
Ich drückte mich etwas zurück und hob den Kopf an. Bill Conolly hatte die gleiche Idee gehabt wie ich. Über das Fenster hinweg schauten wir uns an.
Er nickte mir zu und bewegte den Mund. Seine flüsternde Bemerkung verstand ich nicht, deshalb zuckte ich mit den Schultern.
Bill rutschte vorsichtig zu mir. Jetzt knieten wir beide nebeneinander. »Nun, hat mein Informant recht behalten?«
»Das schon. Nur kann ich mir aus der Szene dort unten keinen Reim machen. Sorry.«
»Aber das ist doch…«
»Sie tun nichts Ungesetzliches, Bill.«
»Sie beten den Löwen an.«
»Das ist auch nicht sicher.«
»Für mich sieht es aber so aus«, entgegnete Bill.
»Ich will dich ja nicht beeinflussen, möchte nur fragen, was du jetzt vorhast?«
»Wir können die Versammlung sprengen!«
»Und dann?«
»Ausfragen. Zeugen sind genug vorhanden. Die werden bei dem nötigen Druck schon den Mund aufmachen. Was die hier unten tun, ist doch nicht normal.«
»Wo fängt bei dir die Normalität an!«
»Sieh das nicht so eng. Ich glaube fest daran, daß wir den Anfang einer heißen Spur gefunden haben.«
»Aber meine Skepsis läßt du mir.«
»Klar doch.«
Wir beugten uns wieder vor und schauten in die Tiefe. Dort hatte sich die Szenerie verändert. Die Personen knieten nicht mehr gebeugt, sie hatten ihre Oberkörper aufgerichtet und eine normale Haltung eingenommen, wobei sie ihre Blicke auf die Löwenstatue gerichtet hielten, als hinge von ihr das Seelenheil ab.
Zwar bedeckten die Kapuzen nach wie vor ihre Köpfe, trotzdem konnten wir erkennen, daß es sich bei den Personen um Frauen handelte.
Sechs Frauen…
»Die afrikanische Magie scheint auf weibliche Personen eine besondere Anziehungskraft auszuüben!« wisperte Bill. »Kein Mann ist dabei.«
»Klar. Ich habe noch immer keinen Grund…«
Da hörten wir das Fauchen!
Es war ein wildes, ein ursprüngliches Geräusch, das aus der Tiefe zu uns hochfloß und auch von der viereckigen Scheibe kaum gedämpft werden konnte.
Unwillkürlich waren wir zurückgezuckt. Uns beiden war klar, daß die Frauen dieses Geräusch nicht ausgestoßen hatte. So röhrte und fauchte nur ein Tier – ein Löwe!
Ich schaute wieder nach unten.
Die Löwenstatue hatte ihre Haltung nicht verändert. Vielleicht hatte sie sich bewegt, ohne daß wir es mitbekommen hätten, nur bei den Frauen hatte sich etwas getan.
Sie waren aufgesprungen, schauten sich gegenseitig an, redeten aufeinander ein und wußten
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