0511 - Der Fluch der Baba Yaga
dienen, nicht, sie zu beherrschen, wie er es damals getan hatte.
Sie hatte alles versucht, ihn aufzuspüren. Sie hatte Hilfsgeister ausgesandt und Irrwische, sie hatte Informationsquellen angezapft wie kaum ein Detektiv vor ihr, und alles war erfolglos geblieben. Ihre Möglichkeiten waren erschöpft; sie konnte Julian Peters nicht finden. Und sie hatte in Erfahrung gebracht, daß dies derzeit selbst Geschöpfen wie Merlin oder Asmodis nicht möglich war, die doch noch über ganz andere, unglaubliche und perfekte Hilfsmittel verfügten.
Deshalb griff sie zur letzten Chance.
Sie brauchte das Auge! Nur damit konnte sie seinen Aufenthaltsort vielleicht noch herausfinden! Das Auge verfügte über Möglichkeiten zur Beobachtung, die geradezu unvorstellbar waren. Vielleicht hätten sich selbst Wesen wie Merlin, Asmodis und sicher auch Zamorra alle zehn Finger danach geleckt, es in die Hand zu bekommen. Dem Auge blieb nichts verborgen.
Dabei war es mit dem Besitz allein nicht getan. Man mußte es auch benutzen können. Der Vergleich mit Dhyarra-Kristallen kam Stygia in den Sinn; man benötigte ein gewisses parapsychisches oder magisches Potential, wie auch immer man es nennen mochte, um einen der blauen Sternensteine zu beherrschen. Ähnlich war es mit dem Auge, nicht jeder konnte es benutzen, aber wer es beherrschte, der konnte damit viel mehr als nur sehen. Das Auge war ein ganz besonderes Instrument.
Kein Wunder, daß die drei Thessalischen Hexen es nicht hergeben wollten. Dabei wollte Stygia es gar nicht auf Dauer besitzen. Sie wollte es sich nur für diesen speziellen Fall ausleihen! Aber gerade weil sie das Auge besaßen, behüteten und beherrschten, konnten die drei Hexen hier und jetzt so mächtig erscheinen. Stygia brauchte sie auch nicht danach zu fragen, woher sie ihre Informationen über Julian und die Hölle bezogen hatten -natürlich über das Auge!
»Was ist dir wichtiger?« wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. »Das Auge oder dein Leben?«
Sie preßte die Lippen zusammen. Was sollte diese Frage? Wollten die Hexen sich endgültig gegen sie stellen?
»Es ist nicht eure Aufgabe, Rätsel zu stellen«, erwiderte sie scharf.
»Kein Rätsel, Tochterschwester, die du uns anfangs etwas von Ehrfurcht, Dankbarkeit und Demut vorgeheuchelt hast. Nur eine Frage. Welche Antwort wirst du uns darauf vorheucheln? Was ist dir wichtiger, das Auge oder dein Leben?«
Stygia schüttelte den Kopf.
»Die Frage ist falsch gestellt«, sagte sie. »Sie sollte lauten: Das Auge oder euer Leben? Solltet ihr versuchen, mich zu töten, wird es euch danach nicht mehr geben.«
»Eine leere Drohung«, stellten die Hexen fest.
»Ja?« pokerte Stygia. »Meint ihr? Wollt ihr es ausprobieren? Ihr hättet allerdings keine Gelegenheit mehr, über das Ergebnis nachzudenken…«
Sie bemühte sich, sicher aufzutreten. Sie mußte die Hexen einschüchtern.
»Du suchst Julian Peters. Was, wenn wir dir sagen könnten, wo du ihn findest? Würdest du dann immer noch auf deiner Forderung bestehen?«
»Ja«, sagte sie. »Weil ihr mich anlügen würdet. Ich traue niemandem außer mir selbst.«
»Ah, wir würden dich anlügen.« Wieder konnte Stygia eine einzelne Sprecherin ausmachen. Die Blinde hob beide Hände, richtete sie auf Stygia. »Welch ein Mangel an Vertrauen, Tochterschwester. Wir hingegen trauen dir auch nicht. Du bist hinterlistig, verschlagen und gemein. Du wirst das Auge, sobald du es in deinen Fingern hast, nicht mehr zurückgeben. Du wirst uns auslöschen, damit wir es dir nicht wieder abfordern können. Und du wirst den, welchen du suchst, töten, ohne zu begreifen, was du damit anrichtest.«
»Ihr weigert euch also immer noch«, sagte Stygia.
»Willst du versuchen, uns zu zwingen?«
Die Fürstin der Finsternis schnob auf stiebende Funken aus den Nasenflügeln. Sie wußte nur zu gut, daß sie dazu nicht stark genug war. Sie konnte nur so tun, als ob.
»Ich würde es bedauern«, sagte sie, »Gewalt anwenden zu müssen, obgleich es noch den Weg der Vernunft gäbe.«
Die Sprecherin der Hexen bewegte die Finger. Ein gleißender Blitz aus gelbgrünem Licht flirrte aus ihren Händen und jagte auf Stygia zu.
***
Boris Saranow ahnte nicht, daß er sich unter einem fremden Bann befand. Sein eigener Wille, sein eigenes Denken war völlig ausgeschaltet worden. Es war so schnell gegangen, daß er es nicht einmal bemerkt hatte.
Er wußte nicht mehr, daß er mit seinem Freund Zamorra und einem Geheimdienstoffizier aus Moskau
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