052 - Die Schlangengrube
obwohl sie kaum je einen Finger rührte, und dass sie schwer arbeiten musste; da war die Überzeugung, dass alle sie brauchten, was auch nicht stimmte, und schließlich die Einbildung, dass sie eine kluge und tüchtige Frau sei.
Um der Langeweile zu entgehen, gab sich Louretta ihren Gemütsregungen hin. Wenn ihr Mann sich nicht wohl fühlte, vollführte sie ein Riesenlamento und redete sich ein, dass sie tiefe Besorgnis empfände. Im Grunde ihres Wesens schätzte sie aber nur die Bequemlichkeit an der Seite Raffaels und die Stellung als Frau des Sippenoberhauptes.
Von dem Dämon wusste Louretta nichts. Sie machte sich auch nicht viel Gedanken über ihn. Sippenmitglieder fiel er nicht an, also drohte ihr keine Gefahr. Sollten Raffael und ihre Söhne sich mit dem Problem herumschlagen.
Einen Verdacht hatte Louretta also nicht, aber Dorian fand doch einen Hinweis über Ramona, dem er nachgehen wollte. Er fand, dass es an der Zeit war, sich zurückzuziehen, und im gleichen Augenblick war er wieder in seinem Körper im Wohnwagen der Hellseherin.
Die alte Zarina legte den Lockenwickler in die Kiste zurück und kicherte. »Da staunst du, was? Die alte Zarina ist doch nicht so ohne, wenn sie ihre Kunden auch meistens belügt, weil es einfacher und für alle angenehmer ist. Was hältst du jetzt von Louretta?«
»Sie ist uninteressant«, sagte Dorian.
»Das kannst du glauben. Aber Louretta ist noch harmlos. Ich kenne da ganz andere. Ich könnte dir Dinge erzählen, Söhnchen … Dinge … Willst du mir vielleicht einen Gebrauchsgegenstand von dir überlassen?«
»Nein«, antwortete Dorian entschieden.
»War ja auch nur ein Spaß. Von dir will ich nichts. Wirklich nicht. Was ich mit meiner Kristallkugel herausgefunden habe, genügt mir. Bei dir würde ich das kalte Grauen bekommen und dämonische Schrecken kennen lernen, wenn ich deine Leben durchforschte.« Ihre Stimme wurde zu einem Flüstern. »Du hast dich einmal dem Teufel verschrieben, Söhnchen?«
Schweiß trat auf Dorians Stirn. Er erinnerte sich an jene Nacht 1484, als er – damals als Baron Nicolas de Conde – einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hatte. Er hatte es bitter gebüßt. Seine Familie war ums Leben gekommen, und er war durch die Jahrhunderte hindurch heimgesucht und geprüft worden. Nach jedem Tod erwachte sein Geist in einem Neugeborenen wieder zum Leben, ohne Erinnerung zunächst, um schließlich nach Jahr und Tag das Wissen um die Vergangenheit zu gewinnen. Seit damals, als er erkannt hatte, wie übel und verderblich die schwarze Magie und alles, was damit zusammenhing, für die Menschen waren, hatte er die Schwarze Familie, die Dämonen und die Mächte der Finsternis bekämpft. Im 20. Jahrhundert war er zu Dorian Hunter geworden, dem Dämonenkiller. Im Kampf gegen Asmodi, den Fürsten der Finsternis, hatte er seine Unsterblichkeit verloren – jetzt war er sterblich wie jeder andere Mensch. Daran dachte Dorian, als er sagte: »Das ist lange her, Zarina. Länger, als Sie sich träumen lassen. Heute bin ich ein erbitterter Gegner der Mächte der Finsternis.«
»Das weiß ich. Das weiß ich genau. Sonst würde ich nicht mit dir reden. Was willst du jetzt wissen, Dorian Hunter?«
»Ramona und jenes Kind, das sie zur Welt brachte, interessieren mich.«
Murmelnd nahm die Alte ein Fläschchen Wimperntusche aus der Kiste. »Ramona ist ein schwerer Fall«, sagte sie. »Von ihr erfährt man nichts. Gar nichts. Jedenfalls nichts, was nach der Zeit läge, seit sie aus dem Schwarzen Schloss zurückkam. Neun Monate später brachte sie ihr Kind zur Welt.«
»Aus dem Schwarzen Schloss?«
»Du kannst es erfahren, Söhnchen. Du kannst Ramona in das Schwarze Schloss folgen. Ich habe nie den Mut dazu aufgebracht. Ich kann es möglich machen, aber ich warne dich. Vielleicht bist du hinterher wahnsinnig oder tot. Willst du dieses Risiko auf dich nehmen?«
»Ja«, sagte Dorian Hunter.
»Wir waren damals im Balkan«, murmelte die alte Zarina, »in der Nähe von Kütahya, in der Türkei. Das Schwarze Schloss war verrufen. Die Bergbauern erwähnten es nur flüsternd. Wir hielten uns fern davon, aber wir blieben nicht weit genug weg.«
Zarina umklammerte das Fläschchen mit der Wimperntusche. Sie legte die Rechte auf die Kristallkugel und schloss die Augen. Dorian wusste jetzt, dass die Alte tatsächlich über sehr starke magische Fähigkeiten verfügte.
»Ramona Masto!«, flüsterte sie eindringlich. »Ramona Masto!«
Das Flüstern kroch in Dorians Gehirn.
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