052 - Die Schlangengrube
nicht der gesuchte Dämon. Es würde wohl nichts anderes übrig bleiben, als die Polizei wegen des Mordes an dem Liebespaar zu verständigen. Aber zuvor wollte sich Dorian die Leichen der beiden Unglücklichen noch einmal ansehen.
Er ging mit Matteo und Phillip los. Stefan schloss sich ihnen an.
In dem Wäldchen erwartete Dorian ein neuer Schock.
Die Leichen waren spurlos verschwunden. Nur eine große Blutlache war noch am Boden zu sehen. Sie begann bereits zu versickern. Für Dorian gab es keinen Zweifel: Während er das Monster überall gesucht hatte, war es zu seinen Opfern zurückgekehrt und hatte sie vollends aufgefressen.
Der Dämonenkiller konnte ein paar herzhafte Flüche nicht unterdrücken.
»Was jetzt?«, fragte Matteo. »Sollen wir wegen des Todes der beiden die Polizei verständigen? Befehlen Sie das, Hunter?«
»Was jetzt passieren soll, weiß ich auch noch nicht«, antwortete Dorian. »Die Polizei lasst nur aus dem Spiel, denn wenn wir ihr die Wahrheit erzählen, werden wir allesamt ins Gefängnis oder in eine Irrenanstalt gesperrt. Zu helfen ist den jungen Leuten ohnehin nicht mehr. Es ist besser, gar nichts zu unternehmen. Aber diesen Dämon, der das auf dem Gewissen hat, werde ich zur Strecke bringen. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue. Dieses Ungeheuer entkommt mir nicht.«
Dorian fuhr spät in die Jugendstilvilla zurück. Am Morgen war er mit Don Chapman und Phillip bereits wieder bei den Zigeunern.
Raffael hatte sich erholt. Er begrüßte Dorian und seine beiden Freunde sehr freundlich.
Dorian suchte mit Phillip Lucia auf, während Don Chapman herumstöberte.
Lucia bewohnte einen eigenen kleinen Verschlag im großen Wohnwagen. Wegen ihrer Schlangen mochte ihn niemand mit ihr teilen. Sie trug ein blaues Wollkleid und hatte Dorians Gemme um den Hals.
»Die Suche nach dem Dämon gestaltet sich schwierig, Lucia«, sagte der Dämonenkiller. »Wir brauchen Hilfe. Kannst du uns nicht aufschreiben, welchen Verdacht du hast oder was du meinst?«
Lucia machte schnelle Zeichen mit der Hand. Die Klapperschlange um ihren Hals begann zu klappern. Dorian wusste von den anderen Sippenmitgliedern, dass die Schlangen in einer Art Morsecode verständlich machen konnten, was Lucia wollte; aber er war kein solches Genie, dass er den Sinn dieses Schlangencodes auf Anhieb erfasst hätte. Einen Mann von der Sippe wollte Dorian aber nicht hinzuziehen; Lucia sollte nicht eingeschüchtert werden und ohne Angst ihre Angaben machen.
Phillip trat zu ihr und streichelte über den Kopf der Schlange. Dorian wollte ihn schon zurückreißen, aber die Klapperschlange schmiegte sich an Phillips Hand. Sie mochte ihn, ja, sie kroch sogar über seinen Arm und schmiegte sich zärtlich um seinen Hals, wie sie es zuvor bei Lucia getan hatte.
Lucia war begeistert. Sie fasste Phillips Hand und küsste ihn auf die Wange. Der Hermaphrodit und die stumme Schlangenbändigerin mochten sich auf Anhieb. Phillip nahm Lucias Hand. Er drückte sie, dann wandte er sich Dorian zu und begann zu sprechen.
Lucia errötete vor Freude. Sie stieß einen begeisterten Aufschrei aus; aber dieser Aufschrei kam nicht über ihre Lippen, sondern über die Phillips. Der Hermaphrodit sprach mit einer angenehmen Mädchenstimme. Es war die Stimme, die Lucia gehabt hätte, wäre sie nicht stumm gewesen.
»Ich kann reden!«, jubelte die Stimme. »Ich kann durch Phillip reden!«
Lucia sang und trällerte. Dorian hatte sich ausbedungen, dass er nicht gestört wurde und niemand zuhörte. Die Amalfi-Brüder wachten darüber. Er überließ Lucia eine Zeit lang ihrer Freude.
»Kommen wir jetzt zur Sache«, sagte der Dämonenkiller dann. »Später kannst du vielleicht sogar mit deinen Eltern und mit deinen Brüdern reden, Lucia. Erzähle mir jetzt etwas!«
Lucia und Phillip setzten sich auf das Bett des Mädchens. Die Klapperschlange wand sich von Phillip zu Lucia herüber und verband die beiden.
»Ich will etwas über Hervio Masto erzählen«, sagte die Mädchenstimme, die aus Phillips Mund kam. »Er stieß erst vor zwei Jahren und neun Monaten zu uns. Er musste Ramona heiraten, die er geschwängert hatte. Mein Vater und meine Brüder zwangen ihn dazu. Hätten wir ihn nur nie gesehen. Als Ramona niederkam, verschwand ihr Kind gleich nach der Geburt aus der Unterkunft. Keiner von uns hat je erfahren, was mit ihm geschehen ist.«
»Was glaubst du, Lucia?«
»Ich glaube, Hervio hat es getötet, vielleicht sogar verschlungen. Es ist auch seltsam, dass
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