0529 - Die letzten Tage der Amazonen
geschrieben," Er hob das Buch. „Es ist eine 'Abhandlung über den achtzigjährigen Krieg."
„Zeig her."
Sie torkelte auf ihn zu. Er betrachtete sie mißbilligend. Sie trug immer noch die Uniform, doch war diese so zerknittert, als hätte sie wochenlang darin geschlafen. Der oberste Knopf ihres Hemdes stand offen, und der Kragen war über den Rockaufschlag gerutscht. Ihr blondes Haar, sonst von einem exakten Mittelscheitel geteilt, war zerzaust, das herbe Gesicht vom Alkohol aufgedunsen.
Sie riß das Buch an sich und blickte verständnislos auf den Umschlag. „Das soll ich geschrieben, haben?
Aber - ich kann. doch gar nicht schreiben." Er lächelte. „Vor zwei Jahren konntest du noch schreiben. Damals, im Jahre 1006 Almadolorosa, hast du dieses Buch verfaßt."
Sie schaute immer noch auf den Buchumschlag. Plötzlich bewegten sich ihre Lippen, und sie buchstabierte den Titel: „Der achtzigjährige Krieg. Von Vanilla Dutch. Vor zwei Jahren war das, sagst du? Dann ist der Krieg inzwischen ins zweiundachtzigste Jahr getreten. Das stimmt doch?"
„Ja, das stimmt", bestätigte er, und in seine Augen trat ein seltsamer Glanz. Er sprang auf. „Du kannst wieder rechnen und lesen, Vanilla! Du hast eben ganz richtig gesagt, daß achtzig und zwei zweiundachtzig sind."
„Wirklich?"
„Aber ja!" Sein Gesicht rötete sich vor Erregung. Er drückte sie kurz an sich und küßte sie flüchtig auf die Stirn. „Das muß ich sofort den anderen erzählen. Gaby! Bolanda! Cynthia!"
Er rannte aus dem Zimmer, über die Treppe ins Erdgeschoß hinunter und hinaus in den Garten.
Die MG-Stellungen an der Betonmauer standen leer. Die ehemals dort postierten Dianen hatten gleich nach Eintritt der allgemeinen Verdummung ihre Plätze verlassen und waren einfach ziellos davongegangen. Damals war der Krieg beendet worden, weil die Dianen nicht mehr in der Lage waren, die Gewehre, Panzer und Flugzeuge zu bedienen. Außerdem hatten sie einfach vergessen, warum sie überhaupt kämpften. Aber das war die einzige positive Auswirkung der Verdummung gewesen.
„Gaby! Bolanda! Cynthia!"
Die drei Frauen waren in ihre Gartenarbeit vertieft. Als sie sein Rufen hörten, legten sie Rechen, Rasenmäher und Wasserschlauch weg und blickten ihm entgegen.
Zuerst schienen sie nicht begreifen zu können, was er ihnen mitteilen wollte, denn er sprach unzusammenhängend und mit sich überschlagender Stimme. Aber auch als sie verstanden, blieben sie unbeeindruckt.
„Deshalb schlägst du solchen Krach?" sagte Gaby. „Ich kann auch zählen und rechnen. Als ich gestern nicht einschlafen konnte, habe ich Schäfchen gezählt. Ich glaube, ich kam bis einhundertvierundzwanzig."
„Und das sagst du, als sei es überhaupt nichts!'' rief er glückstrahlend.
„Mach doch kein Theater", meinte Bolanda ärgerlich. Sie strich sich eine Strähne fettigen Haares aus dem Gesicht. „Ich war gestern in der Geburtsklinik und habe ein wenig an der Retorte hantiert. Ich glaube, mit ein wenig Übung könnte ich mich dort wieder nützlich machen."
„Das ... das ist..." Ihm fehlten die Worte. Er blickte zu der dritten Diane und räusperte sich. „Und was ist mit dir, Cynthia?
Ist dir auch so, als würdest du deine frühere Intelligenz zurückgewinnen?"
Cynthia lacht glucksend. „Ich war zusammen mit Bolanda an der Retorte. Außer uns waren noch gut zwei Dutzend Dianen dort. Sie scheinen eine ähnliche Verwandlung durchzumachen wie wir."
Gaby schloß die Augen und flüsterte: „Es ist, als hätten wir nach einer Ewigkeit im Dunkeln wieder einen Weg ans Licht gefunden."
Ihm kamen vor Rührung die Tränen. Er konnte nun wieder hoffen, daß ihm die Dianen die Last der Verantwortung von den Schultern nehmen würden. Von nun an konnte er wieder sein, was er war: ein MANN.
Er konnte wieder sein Leben in die Obhut der Dianen legen.
Er schwamm wieder auf den Wellen der Geborgenheit...
Die Welt war wieder in Ordnung.
Er wollte seine Gefühle und Gedanken gerade in Worte kleiden, als von jenseits der Betonmauer das Rattern eines Maschinengewehrs ertönte.
Gleich darauf war die Explosion einer Granate zu hören.
Schreie erklangen, vermischt mit vereinzelten Schüssen.
Die ersten schweren Geschütze traten in Aktion...
Panzer rollten an...
Irgendwo heulte eine Sirene: Fliegeralarm.
Die Stille, die etwas mehr als ein Jahr gedauert hatte, war wieder dem Kampflärm gewichen. Der Krieg zwischen den Virilistinnen, den Ego-Dianen und den Neo-Dianen ging weiter.
Vanilla kam
Weitere Kostenlose Bücher