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054 - Gabe und Fluch

054 - Gabe und Fluch

Titel: 054 - Gabe und Fluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Frenz
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bändigte, kannte sich in dem nach Öl und Feuchtigkeit riechenden Komplex gut aus.
    Zielstrebig ging Keiko auf ein stillgelegtes Lüftungsrohr zu. Unter den Schülern ihrer Klasse war es ein offenes Geheimnis, dass man dadurch unbemerkt zur Oberfläche gelangen konnte.
    Fudoh beobachtete aus seiner Deckung heraus, wie sie vergeblich an der schweren Einstiegsluke zerrte. Die Gelegenheit war günstig. Grinsend trat er hinter der mit grüner Mennige gestrichenen Turbinenabdeckung hervor und schlich auf Zehenspitzen heran. Als er so nah war, dass sie eigentlich schon seinen Atem im Nacken spüren musste, griff er blitzschnell nach ihrer rechten Schulter.
    Erschrocken wirbelte Keiko herum. So schnell, dass sie aus dem Gleichgewicht kam, nach hinten stolperte und sich den Ellenbogen am Lüftungsrohr stieß. Der Ausdruck auf ihrem fein geschnittenen Gesicht spiegelte die ganze Gefühlsskala von purem Entsetzen bis zu absoluten Erleichterung wieder.
    »Fudoh, du Idiot«, schimpfte die Schülerin, als sie erkannte, wer sie so erschreckt hatte. Trotz der harten Worte schien sie nicht richtig böse zu sein, doch der Schmerz, der durch ihren Arm zuckte, wischte den Anflug des Lächelns von Keikos Lippen. Ein feuchter Schimmer glitzerte in ihren Augen, während sie über die misshandelte Stelle rieb.
    »Tut mir Leid«, entschuldigte sich Fudoh zerknirscht. »Ich wollte dir nicht weh tun!«
    »Schon gut«, wiegelte sie ab und schob den Ärmel hoch, um zu sehen, ob sie eine Abschürfung davon getragen hatte. Die Untersuchung dauerte eine halbe Ewigkeit. Obwohl nichts zu erkennen war, starrte Keiko wie gebannt auf den Ellenbogen. Fudoh wusste, dass sie nur die aufsteigenden Tränen vor ihm verbergen wollte. Jedes andere Mädchen aus ihrer Klasse hätte laut herumgejammert, um ihm ein schlechtes Gewissen zu machen, aber Keiko neigte nicht zur Wehleidigkeit. Ein Charakterzug, den er sehr zu schätzen wusste.
    In den beiden Jahren gemeinsamer Schulzeit hatte sie sich stets als guter Freund erwiesen. Fudoh mochte sie, seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte, und je älter sie wurde, desto weniger ließ sich ihre erblühende Schönheit übersehen. In den Pausen und nach Unterrichtsschluss verbrachten sie jede freie Minute zusammen, trotzdem vermisste er Keiko schmerzlich, sobald sie einmal nicht in seiner Nähe war.
    »Was machst du eigentlich hier?«, fragte sie, nachdem der erste Schmerz verflogen war.
    »Du hast doch Unterricht !«
    »Schwertkampf beim alten Takashi«, ahmte Fudoh die Stimme seines Vaters nach.
    »Wer braucht diesen Mist schon?« Der Sportlehrer gehörte dem Shögunat an, dem militärischen Flügel des Tenno-Beirats, der sich mit aller Kraft für eine wehrhafte Bevölkerung einsetzte. Viele Japaner empfanden den auferlegten Drill als höchst überflüssig und geizten deshalb nicht mit abfälligen Bemerkungen. Fudoh konnte sich ebenfalls Besseres vorstellen, als mit dem Schwert aufeinander einzuprügeln. Deshalb verkündete er Keiko: »Ich begleite dich lieber ans Meer.«
    Er wusste natürlich längst, wohin seine Schulfreundin wollte.
    Die Ankunft der Fischerboote war schon seit zwei Tagen überfällig. Viele Frauen versammelten sich am Ufer, um nach ihren Männer Ausschau zu halten, doch Arale Hayato war in ihrer Dienststelle unabkömmlich. Keiko schwänzte die Schule, um den Platz ihrer Mutter einzunehmen. Angesichts der Sorgen um das Schicksal ihres Vaters konnte sie sich sowieso nicht auf den Unterricht konzentrieren. Ein Lächeln kerbte sich in ihre Mundwinkel, als sie hörte, dass Fudoh sie begleiten wollte.
    »Ein Glück, dass du hier bist«, gestand sie. »Ich bekomme diese verdammte Luke nicht auf.«
    Fudoh krempelte demonstrativ die Ärmel seines haori auf, der kurzen Jacke, die er über der schlichten Robe und den weiten Hosen trug. Ächzend hob er die Luke an und klappte sie zur Seite. Durch die dunkle Öffnung gelangte man bequem in das mannshohe Rohr. Fudoh präsentierte den Einstieg mit einer übertriebenen Geste, wie ein Magier, dem ein besonders schwieriger Zaubertrick gelungen war.
    »Ladies first«, bot er an. So wie er es in den US-Filmen aus der Datenbank gesehen hatte.
    Keikos stemmte ihre Hände in die Hüften und musterte ihn aus zusammengekniffenen Augenlidern. »Das könnte dir so passen. Du willst mir wohl beim Hochkrabbeln unter den Rock gucken?«
    Das Blut schoss Fudoh bereits ins Gesicht, ehe sie die Anschuldigung beendet hatte. Am liebsten wäre er vor Scham im Boden versunken, doch es

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