Sterben: Roman (German Edition)
FÜR DAS HERZ IST DAS LEBEN EINFACH: Es schlägt, solange es kann. Dann stoppt es. Früher oder später, an dem einen oder anderen Tag, hört seine stampfende Bewegung ganz von alleine auf, und das Blut fließt zum niedrigsten Punkt des Körpers, wo es sich in einer kleinen Lache sammelt, von außen sichtbar als dunkle und feuchte Fläche unter der beständig weißer werdenden Haut, während die Temperatur sinkt, die Glieder erstarren und die Gedärme sich entleeren. Diese Veränderungen der ersten Stunden geschehen so langsam und werden mit solcher Sicherheit vollzogen, dass ihnen fast etwas Rituelles innewohnt, als kapitulierte das Leben festen Regeln folgend, in einer Art gentlemen’s agreement , an das sich auch die Repräsentanten des Todes halten, indem sie stets abwarten, bis sich das Leben zurückgezogen hat, ehe sie ihre Invasion der neuen Landschaft beginnen. Dann jedoch ist sie unwiderruflich. Die riesigen Bakterienschwärme, die sich im Inneren des Körpers ausbreiten, hält nichts mehr auf. Hätten sie es nur ein paar Stunden früher versucht, wären sie augenblicklich auf Widerstand gestoßen, doch nun ist ringsum alles still, und sie dringen fortwährend tiefer in das Feuchte und Dunkle vor. Sie erreichen die Haversschen Kanäle, die Lieberkühnschen Drüsen, die Langerhansschen Inseln. Sie erreichen die Bowman-Kapseln in der Niere, die Stilling-Clarkes’sche Säule im Spinalis, die schwarze Substanz im Mesencephalon. Und sie erreichen das Herz. Noch ist es intakt; aber der Bewegung beraubt, auf die seine gesamte Konstruktion abzielt, wirkt es eigentümlich verlassen, wie eine Fabrikanlage, zum Beispiel, die von den Arbeitern in Windeseile geräumt werden musste, die still liegenden Fuhrwerke, die sich gelb abheben vor dem Dunkel des Waldes, die leer stehenden Baracken, die Loren an der Seilbahn, die voll beladen, in Reih und Glied, parallel zur Felswand hängen.
Wenn das Leben den Körper verlässt, gehört dieser im selben Moment zum Toten. Die Lampen, Koffer, Teppiche, Türklinken, Fenster. Die Felder, Moore, Bäche, Berge, Wolken, der Himmel. Nichts von all dem ist uns fremd. Die Gegenstände und Phänomene der toten Welt umgeben uns kontinuierlich. Dennoch gibt es nur wenige Dinge, die uns unangenehmer berühren, als einen Menschen in ihr gefangen zu sehen, zumindest wenn man die Mühen bedenkt, die wir auf uns nehmen, um die toten Körper unseren Augen zu entziehen. In größeren Krankenhäusern werden sie nicht bloß in eigenen, unzugänglichen Räumen vor uns verborgen, nein, auch die Wege dorthin sind verdeckt, haben eigene Aufzüge und Kellergänge, und selbst wenn man sich zufällig in einen von ihnen verirren sollte, sind die toten Körper, die vorbeigeschoben werden, doch immer verhüllt. Sollen sie vom Krankenhaus abtransportiert werden, geschieht dies von einem gesonderten Ausgang aus, in Wagen mit rußigen Scheiben; auf dem Friedhofsgelände gibt es für sie einen eigenen, fensterlosen Raum; bei der Bestattungszeremonie liegen sie in verschlossenen Särgen, bis sie schließlich in die Erde hinabgesenkt oder in Öfen verbrannt werden. Es fällt einem schwer, in dieser Vorgehensweise einen praktischen Sinn zu entdecken. So könnten die toten Körper ebenso gut offen durch die Krankenhausflure geschoben und in einem gewöhnlichen Taxi abtransportiert werden, ohne eine Gefahr für andere darzustellen. Der ältere Mann, der während eines Kinobesuchs stirbt, könnte genauso gut auf seinem Platz sitzenbleiben, bis der Film vorbei ist und die komplette nächste Vorstellung noch dazu. Der Lehrer, der auf dem Schulhof einen Hirnschlag erleidet, muss nicht zwingend auf der Stelle weggeschafft werden, es passiert nichts Schlimmes, wenn er liegen bleibt, bis der Hausmeister die Zeit findet, sich um ihn zu kümmern, selbst wenn dies erst am Nachmittag oder Abend der Fall sein sollte. Wenn sich ein Vogel auf ihn setzt und pickt, was macht das schon? Soll das, was ihn im Grab erwartet, besser sein, nur weil wir es nicht sehen? Solange die Toten einem nicht im Weg liegen, besteht kein Grund zur Eile, sie können ja nicht erneut sterben. Insbesonders winterliche Kältewellen müssten so gesehen eigentlich von Vorteil sein. Penner, die auf Parkbänken und in Hauseingängen erfrieren, Selbstmörder, die von Hochhäusern und Brücken springen, ältere Frauen, die in Treppenhäusern ums Leben kommen, Unfallopfer, die in ihren Autowracks eingeklemmt sind, der Junge, der nach einem Abend in der Stadt
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