0552 - Gefangene der bösen Träume
Ein Wesen mit grünlicher Haut, die von bräunlichen Flecken durchsetzt war, hatte eine erhöhte Position erklommen. Plötzlich hob es den kantigen Kopf. Sekundenlang schlossen sich die großen, runden Telleraugen. Der Rückenkamm aus dreieckigen Hornplatten zwischen den Flügeln zitterte leicht, der Schweif peitschte hin und her und schleuderte fort, was sich ihm im Wege befand.
»Ein Drache«, flüsterte das massige, kleine Wesen.
Seine Gedanken suchten Kontakt -und fanden ihn. Ganz kurz nur, für Bruchteile von Sekunden.
Ein Echo kam; etwas wurde aktiv, weit, weit entfernt. Dann war es auch schon wieder vorbei.
Große Augen starrten durch feste Wände nach Nordwesten.
»Es muß ein Drache sein…«
***
Der Saal kochte. Die Musik peitschte auf, ging ins Blut der rund fünftausend Fans, die sich in der City Hall versammelt hatten, um den Auftritt der »Fairy Tellers« zu genießen. Gigantische Boxen ließen mit ihrem Schalldruck Magenwände vibrieren.
Im farbigen Bühnenlicht wirbelten die Musiker der Band umeinander zu den aufpeitschenden und mitreißenden Heavy-Metal-Rhythmen.
Dia- und Film-Projektoren schleuderten abwechselnd oder gleichzeitig ihre Bilder auf die weiße Fläche im Hintergrund der Bühnendekoration; sie erweckten eine faszinierende Fantasielandschaft zum Leben.
Eine Art Rahmenhandlung verknüpfte den größten Teil der Songs zu einem gigantischen Epos, zu einem farbenprächtigen Märchen, musikalisch dargeboten und durch die Dias und Filmspots zu einem unbeschreiblichen, einmaligen Spektakel vermischt. Ein Märchen, das von bösen Dämonen, guten Zauberern, schönen Prinzessinnen und heldenhaften Rittern erzählte, von Zwergen und Trollen, von Einhörnern und sprechenden Vögeln, von singenden Blumen, mächtigen Königen, heißblütigen Amazonen… Und einem Helden, der in all dem Zauber nach seiner Erfüllung suchte.
Die »Fairy Tellers«, die Märchenerzähler, schafften es, knallharten Iieavy-Metal-Sound mit romantischen und fantastischen Texten harmonisch zu verbinden und daraus eine Geschichte zu schmieden, die niemand jemals wieder vergaß, der ein solches Konzert erlebt hatte.
Und immer wieder erlebte die Geschichte Veränderungen; bei jedem Auftritt gab es Variationen. Entweder durch weitere Lieder oder durch eine Umstellung der Reihenfolge, die den Abenteuern der Figuren einen ganz neuen Inhalt zu geben vermochten. Was in der musikalischen Handlung geschah, wurde jeweils spontan entschieden; es gab keine feste Abfolge der einzelnen Episoden.
Zwischendurch schlüpften die Musiker auch in die Rolle agierender Personen in dem großangelegten Bühnenbild. Die Zuschauer ließen sich mitreißen, jubelten, stimmten in die Lieder mit ein, soweit sie sie kannten…
Und irgendwann, nach zweieinhalb Stunden, die wie im Flug vergingen, klang alles aus, fand sein Ende. Die Bilder auf und hinter der Bühne verloschen, die Musik verhallte, das Licht wurde heruntergedimmt, bis die Bühne nur noch ein tiefschwarzer Raum war.
Es gab keinen Abgesang, kein Vorstellen der einzelnen Künstler. Nur noch die Schwärze. Keine Zugabe… alles vorbei.
Wenn das Licht wieder aufflammte und auch den Saal erhellte, war die Bühne leer, die Musiker fort.
Und ein begeistertes Publikum, noch im Bann der Musik, verströmte sich nur zögernd, bis endlich der Saal geleert war und geschlossen werden konnte.
Der Eindruck, etwas Einmaliges und Unwiederbringliches erlebt zu haben, blieb in jedem von ihnen zurück.
***
»Ein Drache«, wiederholte das feinschuppige Geschöpf und schluckte heftig. »Wirklich, ein richtiger, echter Drache…«
Es machte eine begeisterte Bewegung - eine falsche Bewegung. Und löste damit eine Katastrophe aus.
Der Schweif wischte über die große Herdplatte und räumte Töpfe und Pfannen ab, die scheppernd und polternd auf den Bodenfliesen landeten. Der Stuhl, auf den das massige Wesen geklettert war, um den Inhalt eines Hochschrankes zu inspizieren, geriet ins Wanken -und zerbrach.
Das Wesen mit der grünlichen, braun gefleckten Haut, den Flügeln und dem Rückenkamm aus dreieckigen Hornplatten ruderte mit den kurzen Armen, versuchte noch mit flatterndem Flügelschlag das Gleichgewicht zu bewahren und sich mit vierfingriger Hand am Schrank festzuhalten - vergebens. Es landete zwischen dem verstreuten Kücheninventar. Der Schrank, selbst nicht sonderlich fest an der Wand befestigt, folgte dem heftig ruckenden Zug der krallenbewehrten Hand sowie dem Gesetz der Schwerkraft und
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