0559 - Kapitän Sensenmann
durch die offene Haustür nach draußen zu laufen. Sie war aus der Ohnmacht erwacht und wie blind durch das Zimmer gelaufen, bis ihr die offene Tür aufgefallen war. Damit war auch die Erinnerung zurückgekehrt und die grauenvolle Angst, um ihre Tochter.
Harriet rannte nach draußen. Der Regen durchnäßte sie im Nu bis auf die Haut.
Sie brüllte den Namen, und das Rauschen der Wassermassen verschluckte ihre Stimme.
»Gayle…!«
Harriet bekam keine Antwort.
Sie stolperte weiter auf die Klippen zu. Ein Weg war nicht zu erkennen. Die trommelnden Wassermassen hatten das Gelände aufgeweicht und rutschig werden lassen. Es brannte kein Licht. Der Boden war mit Fallen bestückt. In einer kleinen Mulde rutschte sie auf dem Schlamm aus und fiel lang auf das Gesicht.
Sie stand wieder auf, taumelte weiter und sah schon bald trotz Dunkelheit und Regen den breiten, hellen Streifen der Gischt unter sich. Ein Zeichen, daß sie nicht mehr weit von den Klippen entfernt stand.
Ihre Tränen vermischten sich mit dem Regenwasser auf dem Gesicht. Von Gayle hatte sie weder etwas gehört noch gesehen. Sie war verschwunden, wie vom Erdboden oder vom Meer verschluckt.
Noch einmal nahm sie ihre Kraft zusammen, doch sie schaffte es nicht mehr, den Namen ihrer Tochter zu rufen.
Aus der Kehle klang nur ein dünnes Krächzen. Wo sie stand, brach Harriet Bowman zusammen…
***
Chiefinspektor Lester schaute seinen Untergebenen an. »Wann kommt Mrs. Bowman, haben Sie gesagt?«
Der Sergeant hob die Schultern. »Sie ist schon da, Sir.«
»Tatsächlich.«
»Ja.«
Lester nickte. »Das wurde auch Zeit. Schließlich hat Harriet seit vier Tagen nichts mehr von sich hören lassen. Wie lautet eigentlich Ihre Meinung, Sergeant?«
Der Beamte blickte auf seinen am Schreibtisch sitzenden Vorgesetzten nieder. »Wollen Sie die wirklich wissen?«
»Klar, reden Sie.«
»Ich glaube nicht, Sir, daß Gayle noch eine Chance hat.«
»Sie meinen, daß sie nicht mehr lebt?« erkundigte sich Lester nach einer Nachdenkpause.
»So ist es.«
Chiefinspektor Lester, im Prinzip ein gemütlich wirkender Typ mit Vollbart, dünnen Haaren und einer Pfeife.
Er schaute dabei auf das Revers seines Cordanzugs, wo glimmender Tabak seine Spuren hinterlassen hatte. »Das wäre fatal für uns, Sergeant.«
»Sicher, Sir, und gleichzeitig der Beweis, daß die Geschichte stimmt.«
Lester winkte ab. »Das kann ich nicht glauben.«
»Ich auch nicht, Sir. Aber was wollen Sie machen?«
»Nicht ich, Sergeant. Sie sind an der Reihe. Schicken Sie mir Mrs. Bowman bitte herein.«
»Sofort, Sir.«
Lester brauchte nicht lange zu warten. Als die Tür nach innen gedrückt wurde, erhob er sich. Der Sergeant ließ Mrs. Bowman vorgehen. Eine ältere, sehr schüchtern und ängstlich wirkende Person, die sich in dem Bürozimmer mit der sehr hohen Decke etwas fremd vorkam. Sie trug einen braunen Wintermantel, dessen Stoff wie naß glänzte. Eine ebenfalls braune Handtasche hielt sie umklammert wie einen Rettungsanker. Man sah ihr an, daß sie in den letzten Tagen viel geweint hatte.
»Mrs. Bowman, Sir.«
»Guten Tag.« Der Chiefinspektor reichte der Frau die Hand. »Sie wissen, wer ich bin?«
Die Antwort war kaum zu verstehen. »Ja, der direkte Vorgesetzte meiner Tochter.«
»Genau.« Er räusperte sich. Der Sergeant hatte sich zurückgezogen und die Tür leise hinter sich geschlossen. Lester fühlte sich unwohl.
Er deutete auf einen Besucherstuhl. »Bitte, nehmen Sie dort Platz. Darf ich Ihnen etwas zu trinken holen? Ein Glas Wasser, vielleicht?«
Harriet Bowman strich durch ihr grau gewordenes Haar und zwinkerte mit den Augen, denen jeglicher Glanz fehlte. »Nein, ich möchte bitte nichts trinken.«
»Gut.« Lester setzte sich ihr gegenüber. Hinter dem Schreibtisch zu sitzen, gefiel ihm nicht. Die Frau brauchte seine Nähe, das spürte er, die räumliche Distanz hätte sie möglicherweise verschreckt. Lester wußte nicht, wie er beginnen sollte. Am besten würde es sein, wenn er von seiner Mitarbeiterin sprach.
»Wir hier sind alle stolz auf Ihre Tochter. Mrs. Bowman.«
Sie reagierte kaum, bis auf ein leichtes Heben der Schultern. »Das war sie«, erwiderte sie schließlich.
»Wieso?«
»Gayle ist tot!«
Lester schluckte und hustete. War sie tatsächlich tot? Wußte ihre Mutter mehr?
»Glauben Sie mir nicht, Sir?«
»Nein, Mrs. Bowman. Hat man die Leiche Ihrer Tochter gefunden?«
»Das nicht.«
»Sehen Sie.« Der Chiefinspektor sprach zu ihr wie der Vater zu einem
Weitere Kostenlose Bücher