0560 - Der Rattenmensch
Körper ausbreitete.
Das andere Gefühl überkam sie.
Lorri bezeichnete es schon seit langem als das andere Gefühl. Es veränderte sie völlig. Zunächst hatte sie gemeint, ihre Jugend würde zurückkehren. Sie fühlte sich wieder stark und prall gefüllt mit der vergangenen Spannkraft. Die Haut schien sich zu glätten, das Blut rann schneller durch die Adern, und die Gedanken bekamen Freiräume, die sie längst vergessen hatte.
Noch etwas anderes kam hinzu. Lorri vergaß nach einer Weile Raum und Zeit. Zwar kniete sie nach wie vor noch in ihrer Hütte, sie selbst allerdings bekam den Eindruck, als wären Kräfte dabei, sie wegzutragen. Hinein in eine andere Welt, in die Ebene, wo Raum und Zeit ihre Bedeutung verloren hatten, wo die Grenzenlosigkeit begann und den Blick für Dinge öffnete, die jenseits des normalen lagen.
Im Kessel brodelte, zischte und dampfte es. Da waren verschiedene Extrakte zusammengekommen, angereichert durch dunkles, altes Blut, das seinen scharfen Geruch in den der anderen Zutaten mischte.
Lorri fühlte sich wunderbar. Die alte Zeit war zurückgekehrt. Sie kniete, sie lächelte. Ihre sonst müde blickenden Augen hatten einen fast strahlenden Glanz bekommen. Der Widerschein des Feuers zuckte ebenfalls über ihre Gestalt und gab ihr etwas Phantomhaftes.
Und sie sah…
Es war genau die Sekunde, die sie benötigte, um den letzten Rest der Grenzen überwinden zu können. Im aus dem Topf strömenden Rauch zeichnete sich ein Bild ab. Zuerst war es nicht genau zu erkennen. Dann sah man einen Mann.
Er wirkte alterslos mit seiner schlanken Gestalt, der etwas dunklen Haut, die urplötzlich einen anderen Schimmer bekam. Sie wurde grau und unansehnlich.
Der Mann riß den Mund auf. Es geschah blitzschnell. Der Mund blieb wie zu einem stummen Schrei geöffnet, während gleichzeitig die graue Farbe in seinem Gesicht zunahm.
Farbe, Haut, Fell!
Alles vermischte sich, und der Rauch quoll dick und stoßweise aus dem Topf.
Das Bild verschwand…
Lorri, die alte Zigeunerin, stöhnte auf. Sie schwankte, als hätte sie jemand angestoßen.
Wie ein Pendel glitt sie von einer Seite auf die andere, bis der Schwung so stark wurde, daß sie sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte und nach rechts wegkippte.
Schwer fiel sie auf den kalten Boden.
Aus dem Topf drangen die Rauchfahnen spärlicher: nur mehr zitternde Reste, fade Schleier, die irgendwann völlig verschwanden, so daß nichts mehr zurückblieb.
Das aber sah Lorri nicht mehr. Sie lag da, atmete schwer, und nur der Kater kam zu ihr, drückte seinen Kopf gegen ihren Nacken und miaute leise.
Dieses Geräusch riß Lorri wieder zurück in die Gegenwart. Sie hob mit einer müden Bewegung die Hand, streichelte das Fell auf dem Rücken des Tieres und flüsterte: »Es ist soweit. Es läßt sich nicht aufhalten. Der Fluch hat sich erfüllt…«
Mehr konnte sie nicht sagen.
Nur der Kater miaute klagend…
***
Meine Güte, war das ein Wetter!
Da konnte man nur den Kopf schütteln, im Bett bleiben, sich im Haus verkriechen und die Adventskerze anzünden, vorausgesetzt, man hatte sich einen Kranz gekauft, was ich nicht getan hatte, weil mir die Zeit dazu fehlte.
Ein Sonntag mit Sturm, Regen, ziemlich warmen Temperaturen, einfach grauenhaft.
Ich war an diesem Morgen so gut wie überhaupt nicht aus dem Bett gekommen. Erst gegen elf Uhr hatte ich mich hinausgewälzt, mir Zeit mit dem Duschen und anziehen gelassen, war nach nebenan gegangen, wo Suko wohnte, und hatte ihn bedauert. Aber das tat er selbst genug. Der Arzt hatte ihm einige Tage Bettruhe verordnet, denn seine Fleischwunde am linken Bein, genau in Höhe der Wade, hatte sich entzündet. Da Suko nicht ins Krankenhaus wollte, mußte er das Bett hüten. Das hatte er fest versprechen müssen.
Als ich kam, lag er nicht, sondern hockte in einem Sessel, das verletzte Bein hochgelegt.
»Du hast es gut«, sagte er zur Begrüßung. »Nie wieder prügele ich mich auf einem Geisterschiff mit irgendwelchen Zombie-Piraten herum, das verspreche ich dir.« Er spielte damit auf unseren letzten Fall an, der uns nach Cornwall und zum Käpt’n Sensenmann geführt hatte, der dieses Geisterschiff befehligte. [1]
»Du mußt es eben noch lernen, richtig zu fechten, Alter. Am besten ist es, wenn du mal einen Kurs mitmachst.«
»Ha, ha, darf ich mal lachen?«
»Hast du schon was gegessen?«
»Klar.«
»Was denn?«
»Kraftfutter«, erwiderte Suko, »auch Müsli genannt. Das schmeckt wahnsinnig gut. Willst du
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