0560 - Der Rattenmensch
»George!« Carols Stimme klang leicht schrill. »Dieser Sand, George…«
»Was ist damit?«
»Er bewegt sich.«
George Richman atmete tief durch. Allmählich fand er die Bemerkungen seiner Frau nicht mehr spaßig. »Carol, bitte, es ist schon das dritte Mal, daß du mir mit diesen Schauermärchen kommst.«
»Es stimmt aber.« Wütend schleuderte die Frau ihr blondes Haar zurück, da es immer wieder in die Stirn fiel. Sie wies nach links, wo ihr Mann nicht hinsah.
Dessen Blick fiel über den See, wo die Wellen graublau und gekrönt von Schaumstreifen am Ufer ausliefen. Bald würde die Sonne sinken und das Wasser mit einem rotgoldenen Schein überziehen.
Dann sah der Plattensee aus wie eine riesige, kostbare Brosche, die eingebettet in einer hügeligen Berglandschaft lag.
George Richman liebte diese Landschaft. Vielleicht deshalb, weil einer seiner Vorfahren mütterlicherseits aus Ungarn stammte. Aus diesem Grunde waren er und seine Frau auch an den Plattensee gefahren, um Urlaub zu machen.
Carol ließ ihn nicht in Ruhe. »George, das war keine Täuschung. Ich habe es deutlich gesehen.« Ihre Stimme hatte einen hektischen, übernervösen Klang bekommen.
»Ja, der Wind.« Richman drehte sich noch immer nicht um.
»Nein, das kam von unten.« Die blonde Frau umklammerte den linken Ellbogen des Mannes. »Jetzt dreh dich um, zum Henker!«
Richman verdrehte die Augen. Um seiner Frau einen Gefallen zu erweisen, tat er es.
Die beiden befanden sich allein am Strand. Hinter den Bäumen, etwa hundert bis hundertfünfzig Meter vom See entfernt, lagen die Bungalows auf einem künstlich angeschütteten Wall. Die meisten Gäste hielten sich dort zum Essen auf. Nur das Ehepaar Richman wollte den Anblick des Sees noch genießen.
»Und dort hast du etwas gesehen, Carol?«
Sie ließ ihren Mann los und lief einige Schritte weiter. Carol trug nur rote Shorts und ein weißes T-Shirt mit ovalem Ausschnitt. Ihre Füße steckten in vorn offenen Sandalen, aus denen die rotlackierten Zehennägel wie unterschiedlich verteilte Blutstropfen hervorschauten. Mit dem rechten Fuß trat sie auf, hielt den Kopf schief und schaute zu ihrem Mann hinüber, der die Schultern hob.
»Was soll das heißen, George?«
»Ich sehe nichts.«
»Ich jetzt auch nicht. Aber schau dir die Wellen an. Hier ist unter dem Sand etwas hergekrochen.« Sie zog die kleine Nase kraus. »Ich glaube, wir sollten gehen.«
»Ach, das ist Unsinn. Ich möchte gern sehen, wie die Sonne sinkt und den See mit Gold füllt.«
»Pah, wenn es echt wäre.«
»Du hast keinen Sinn für Romantik, Carol. Man merkt, daß du an einem Computer hockst.«
»Was hat das denn damit zu tun?«
»Deine Reaktion.«
»Hör jetzt auf, verflixt. Ich habe etwas gesehen, damit basta.« Ihre Stimme klang nicht mehr so überzeugt. Carol hatte auch nichts mehr dagegen, auf ihren Mann zuzugehen und sich seinen Arm um ihre Schulter legen zu lassen.
»Vergiß den Sand, Darling. Du hast dir alles eingebildet.«
Carol gab keine Antwort, weil sie den kleinen Streit nicht noch weiter aufbauschen wollte. Dennoch war es ihr nicht möglich, in die gleiche Stimmung zu gelangen wie ihr Mann. Sie dachte stets an den sich bewegenden Sand, als hätte dieser von unten her Druck bekommen, um in Wellen auslaufen zu können.
George hatte sich sowieso auf den See konzentriert. »Diese Ruhe«, flüsterte er und streichelte die braune Haut seiner dreißigjährigen Gattin. »Sie ist einfach herrlich. Keine Hektik wie in London. Alles fließt, alles bewegt sich. Ich mag dieses Leben. Weißt du, Carol, hier könnte ich auch meinen Lebensabend nach der Pensionierung verbringen. Das wäre ein wunderschöner Traum.«
»Der auch einer bleiben soll, denn ich gehe aus England nicht weg. Ich bin dort geboren und bleibe auch da. Klar?«
»Darf ich nicht mehr träumen?«
»Doch, aber…«
George lachte, drehte sich und preßte seine Frau an sich. Bevor sie sich versah, spürte sie schon seine Lippen auf ihrem Mund und merkte, wie seine Zungenspitze sich vorschieben wollte.
Nur zu gern entspannte sie sich in den Armen ihres Mannes. Ein Gefühl, wie elektrischer Strom floß durch ihren Körper. Beide Menschen vergaßen ihre Umgebung sehr schnell.
Das war ein Fehler!
Carol hatte sich nicht getäuscht. Unter dem Sand war tatsächlich so etwas wie eine Bewegung zustande gekommen. Und diese Bewegung hatte sich fortgesetzt und war in kleinen Wellen ausgelaufen.
Nun wieder…
Diesmal jedoch kroch das, was unter der Erde
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