057 - Das Gespensterschloß
seinen Mantel überlassen? Fieberhaft knöpft er ihn auf.
Endlich die Paßhöhe! Ein Steilhang zum Dorf hinunter, da drunten glänzen rote Dächer in der Sonne … die Sonne gibt es also noch? Soll er sich hinabstürzen? Sich von all den Fangarmen befreien, die nach ihm fassen?
Mit einem wilden Aufschrei beginnt er zu rennen … nein, nicht dorthin … nicht …
„Haltet mich fest … Djalli! … Djalli!“
Stimmen! … Wie sanft sie sind, und es ist etwas Beruhigendes um ihn herum. Ein Wohlgefühl, wie man es empfindet, wenn man zu enge Stiefel auszieht, die man einen ganzen Tag, nein, wochenlang getragen hat. Bernard schlägt die Augen auf: er liegt auf einem Ruhebett in einem hellen Raum.
„Trinken Sie.“
Jemand setzt ihm einen dampfenden Becher an die Lippen … eine Frau mittleren Alters, sie trägt ein buntes Mieder und kein Leichentuch – wie merkwürdig …
Noch eine Frau und Männer hinter ihr, Bauern … nicht nur Bauern … einer steht da, der Pfeife raucht und eine graue Wolljacke anhat. Bernard nimmt einen Schluck. Grog ist es.
Der Schleier vor seinen Augen zerreißt langsam. Er schiebt die Frau zurück und richtet sich auf. Verständnislos starrt er sie alle an, dann bricht er in Lachen aus, ein Lachen, das ihn erleichtert und nicht enden will.
Der Mann in der Wolljacke tritt ans Ruhebett heran.
„Können Sie mich verstehen?“
„Ja.“
„Inspektor Martin.“
Irgendwo ist ein Loch, eine Leere in seinem Gedächtnis. Bernard schließt die Augen wieder. Nach einer Weile fragt er den Inspektor lächelnd: „Was ist mit mir geschehen?“
„Man hat Sie am Dorfeingang, im Schnee liegend und phantasierend, aufgefunden. Ihr Name ist Bernard Ligniere, und Sie sind Universitätsprofessor.“
„Ja. Wieviel Uhr ist es?“
„Zwölf Uhr mittags.“
Mein Gott, ist es zu spät? Er müßte längst … wo sein?
Der Inspektor fährt fort: „Sie kamen vermutlich aus dem Gebirge?“
„Ja. Gestern wollten wir über den Paß fahren. Ich war mit Freunden zusammen, unser Wagen ist im Schnee steckengeblieben.“
„Wo sind Ihre Freunde?“
„Ich weiß es nicht.“
„Wo haben Sie Ihren Wagen stehenlassen?“
„Kurz unterhalb der Paßhöhe.“
„In der Nähe des Schlosses also?“
„Ist dort ein Schloß?“
„Freilich.“
Bernard seufzt erleichtert auf. Das Schloß existiert also wirklich, es ist nicht nur ein böser Traum. Dorthin muß er zurückkehren, ja, unbedingt. Zurückkehren? Wozu eigentlich? Ach so, ja! Wieder ein Lachen, ein kurzes Auflachen diesmal, aus amüsierter Verblüffung.
Der Inspektor forscht weiter: „Glauben Sie, daß Ihre Freunde Zuflucht im Schloß gefunden haben?“
„Wir sind alle dort gewesen, ich für meine Person habe mich schließlich in Sicherheit bringen können. Legen Sie nicht zuviel Gewicht auf meine Worte, ich muß erst meine Gedanken in Ordnung bringen, und das ist nicht ganz einfach. Ich möchte gern allein mit Ihnen sprechen.“
Mit einer Geste fordert Inspektor Martin die andern auf, den Raum zu verlassen. Während sie hinausgehen, stopft er sich seine Pfeife und zündet sie an.
„Ich habe den Eindruck, es ist eine recht böse Geschichte.“
„Wir sind in eine Falle gegangen.“
„Was für eine Falle?“
„Sie können es nicht ohne weiteres verstehen. Ich muß den richtigen Weg finden, um Sie ins Bild zu setzen.“
„Berichten Sie mir alles.“
„Nein. Ich könnte mir vorstellen, daß Sie mich sofort ins Irrenhaus bringen würden.“
Er setzt sich auf den Bettrand und hält sich den Kopf. Wie war das nun also? Alles ist jetzt gegenwärtig in seinem Gedächtnis, alles – oder doch fast alles.
Djalli! Er greift an seinen Hals … ja, er wußte bereits, daß das Kettchen nicht mehr da ist.
Fieberhaft sucht er in seinen Taschen nach dem Notizbuch und dem Blatt.
Da ist es: Tristans Arbeitszimmer. Linke Wandfläche neben Kamin. Dritter Ziegelstein von oben, rechte Seite, und achter von unten, linke Seite. Zu gleicher Zeit drücken.
Es ist also nicht nur ein Hirngespinst. Er ist verpflichtet, alles nachzuprüfen, alles minutiös auszuführen, was Djalli ihm aufgetragen hat, auch wenn es auf den ersten Blick absurd erscheint. Unbedingt muß er noch einmal ins Schloß zurückkehren, aber nicht allein. Wenn seine Bewohner geistesgestört sind, wäre es eine zu große Gefahr, und da sind ja auch noch seine Freunde. Schön, aber wie dem Inspektor die Situation darlegen? Seine Mithilfe erwirken, indem er einen Teil des Geschehens
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