057 - Das Gespensterschloß
Polizeiinspektors zurückkommen würde. Aller Wahrscheinlichkeit nach sind in diesem Hause Verbrechen im Gange, wenn sie nicht bereits begangen wurden.
Martin spürt seine Verwirrung und zieht ihn beiseite.
„Es ist wohl nicht so einfach, wie Sie es sich vorgestellt haben?“
„Bei Gott, nein!“
„Hören Sie“, sagt Bernard, „es hat den Anschein, als fühlten sich die beiden Alten insbesondere durch Ihre Anwesenheit gehemmt. Lassen Sie mich lieber allein mit Wilhelm durchs Schloß gehen. Sollte ich in Gefahr geraten, werde ich Sie zu Hilfe rufen.“
„Das genügt nicht. Möglicherweise könnte ich Sie nicht hören. Haben Sie eine Waffe bei sich?“
„Nein.“
Nach einigem Zögern entschließt sich der Inspektor.
„Ich habe mich mit zwei Revolvern versehen, nehmen Sie für alle Fälle diesen hier. Wenn nötig, schießen Sie, einen Knall werde ich hören.“
Er übergibt Bernard einen Revolver von beträchtlichen Ausmaßen, und zwar so auffällig, daß Therese und Wilhelm den Vorgang bemerken müssen.
„Sie verstehen damit umzugehen?“
„Jawohl.“
Das Bewußtsein, eine Waffe in der Tasche zu haben, wirkt einigermaßen beruhigend auf ihn. Er wendet sich nach Wilhelm um.
„Der Inspektor bleibt hier. Begleiten Sie mich und vergessen Sie nicht, daß ich bewaffnet bin.“
Der Riese reißt die Augen auf.
„Die Waffen, wissen Sie … gegen die Toten.“
„Wollen Sie mir Tote zeigen?“
„Nein, ich nicht … nur, alle Welt weiß Bescheid … im Schloß spukt es, nicht wahr, Inspektor?“
Bernard überhört die unangebrachte ironische Bemerkung.
„Gehen wir über die Galerie?“
„Ja.“
„Womit fangen wir an?“ fragt Wilhelm.
„Mit dem Friedhof.“
„Schön. Nach dem Friedhof die Kapelle, dann das Arbeitszimmer von Herrn Tristan.“
„Ach, mit einem mal entsinnen Sie sich ihrer?“
„Sie sind allein, Herr Bernard, ich habe Erinnerungen, die Sie angehen, aber nicht die andern. Sie werden der Unsrige sein.“
„Der Ihrige?“
„Fräulein Djalli wird es Ihnen erklären.“
„Es ist also wahr, Djalli ist heute früh mit mir in die Küche gekommen?“
„Es ist wahr.“
„Djalli existiert also.“
„Sie ist vor hundertfünfzig Jahren gestorben, aber Sie werden sie wiedersehen.“
Abermals diese phantastische Lösung. Bernard muß indessen zugeben, daß dieser Alptraum bei Tageslicht sehr viel weniger beklemmend wirkt. Er kann nur noch lachen.
Wilhelm bleibt vor einem Fenster stehen, genauer gesagt: vor den Überresten eines Fensters.
„Von hier aus haben Sie, glaube ich, den Friedhof gesehen.“
Ja, es ist der Friedhof, wenn er sich auch nicht mehr im gleichen Zustand befindet: ohne Verdammte und ohne Rundtänze, ohne Jammergeschrei, ein verwahrloster, seit ewigen Zeiten aufgelassener Friedhof. Die Gräber geschlossen, dicht überwachsen. Kaum beeindruckt, murmelt Bernard: „Weiter, die Kapelle jetzt.“
Er hat das kleine Gebäude erkannt, es steht zwar noch, aber die Tür ist herausgerissen, die hohen Fenster sind leer.
„Am Ende des Flurs sind die Luken, die sich nach dem Kapellenschiff öffnen.“
Trotz des Verfalls findet sich Bernard auch hier wieder zurecht. Die Särge sind verschwunden, doch der Altar steht noch da, nahezu intakt und mit Stroh umhüllt.
Bernard seufzt: „Jetzt das Arbeitszimmer.“
„Dort muß ich Sie allein lassen. Fräulein Djalli meint, wenn Sie das Arbeitszimmer verließen, würden Sie keine Zweifel mehr hegen. Vergessen Sie nicht ihre goldene Kette, das Medaillon und einen gewissen Zettel, auf den Sie ein Datum geschrieben haben.“
Die Tür zu Tristan Derais’ Arbeitszimmer ist weniger morsch als das übrige Gebäude. Wilhelm zieht einen Schlüssel aus der Tasche, um aufzuschließen, dann gibt er ihn Bernard.
„Ich werde hier auf Sie warten.“
Der junge Mann fühlt sich seltsam bewegt. Wenn das Arbeitszimmer verschlossen war, so bedeutet das doch wohl, daß es besser erhalten ist als alles, was er seit seiner Rückkehr ins Schloß gesehen hat.
Ach nein – gestern sah es so anheimelnd aus, heute ist es verkommen. Die Teppiche liegen noch auf dem Boden, aber sie sind vom Zahn der Zeit zernagt, die Sessel zerbrochen, man hat sie zusammen mit. den Trümmern des runden Tischs in eine Ecke geschoben. Der Kamin ist leer, auf den ersten Blick erkennt man, daß seit Jahren kein Feuer mehr gemacht worden ist.
Die Bücher stehen an ihrem Platz, aber sie sind mit Staub und Schimmel bedeckt. Ein einziges fesselt Bernards Blick,
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