06 - Denn keiner ist ohne Schuld
gequälter Familienfeste auf dem Gut ihres Onkels - zum Zwecke eines Familiensinns, der nie existiert hatte - hatten jeglicher Zuneigung, die sie vielleicht für ihre ältere Cousine übriggehabt hatte, den Garaus gemacht. Die wenigen Kostproben, die Rebecca ihr von ihren unverständlichen und extremen Verhaltensweisen gegeben hatte, hatten sie gelehrt, sicheren Abstand zu wahren, wann immer sie sich länger als eine Viertelstunde unter demselben Dach aufhielten. Und schließlich kam hinzu, daß sie Rebecca unerträglich dumm fand. Noch nie hatte Rebecca sich selbst ein Ei gekocht, noch nie hatte sie einen Scheck ausgeschrieben, niemals selbst ihr Bett gemacht. Auf jedes auch noch so kleine Problem des täglichen Lebens gab es für sie nur eine Antwort: Daddy wird sich schon darum kümmern. Eine Art der Bequemlichkeit und Abhängigkeit von den Eltern, die Cecily verabscheute.
Und auch heute kümmerte sich natürlich Daddy um alles. Sie hatten ihren Teil getan; gehorsam hatten sie mit blauen Lippen von einem Fuß auf den anderen tretend in der Eiseskälte unter dem Nordportal der Kirche auf den Pfarrer gewartet, während drinnen, im mit Stechpalme und Efeu geschmückten Kirchenschiff, die Gäste unruhig wurden und sich wunderten, wieso die Kerzen immer noch nicht angezündet wurden und der Organist noch immer nicht den Hochzeitsmarsch anstimmte. Eine Viertelstunde lang hatten sie im bräutlich weiß fallenden Schnee gewartet, ehe Daddy schließlich über die Straße gefegt war und wutschnaubend beim Pfarrer angeklopft hatte. In weniger als zwei Minuten war er wieder da gewesen, sein sonst so rosiges Gesicht kreideweiß vor Wut.
»Er ist nicht einmal zu Hause«, hatte St. John Andrew Townley-Young in heller Empörung berichtet. »Diese dämliche Kuh...«
Cecily kam zu dem Schluß, daß er damit die Haushälterin des Pfarrers meinte... »sagte, er sei heute morgen, als sie kam, schon weg gewesen. Wenn man das glauben kann. Dieser inkompetente, elende...«
Die Hände in den perlgrauen Handschuhen ballten sich zu Fäusten. Sein Zylinder bebte. »Geht in die Kirche. Los, rein mit euch. Es hat keinen Sinn, hier in der Kälte herumzustehen. Ich erledige das schon.«
»Aber Brendan ist doch hier, oder?« hatte Rebecca ängstlich gefragt. »Daddy, Brendan ist doch hier?«
»Ja, leider«, antwortete ihr Vater brummig. »Die ganze Familie ist da. Wie die Ratten, die das sinkende Schiff nicht verlassen.«
»St. John!« murmelte seine Frau mahnend.
»Los, geht rein!«
»Aber dann bekommen doch die Leute die Braut schon vorher zu sehen«, jammerte Rebecca.
»Himmelherrgott, Rebecca!«
Townley-Young verschwand noch einmal für zwei Minuten in der Kirche, ehe er zurückkam und sagte: »Ihr könnt im Glockenturm warten.«
Dann machte er sich wieder auf die Suche nach dem Pfarrer.
Und nun warteten sie also immer noch unten im Glockenturm, den Blicken der Hochzeitsgäste durch eine hölzerne Gittertür entzogen, die mit einem staubigen, widerlich riechenden roten Samtvorhang verkleidet war. Der Stoff war so dünn, daß sie dahinter den Glanz der Leuchter im Kirchenschiff sehen konnten. Sie konnten auch das Getuschel und unruhige Füßescharren der Menge hören. Gesangbücher wurden geöffnet und wieder zugeklappt. Der Organist spielte. Unter ihren Füßen, in der Krypta, ächzte und stöhnte die Zentralheizung.
Cecily warf einen taxierenden Blick auf ihre Cousine. Sie hätte es nicht für möglich gehalten, daß Rebecca wirklich einen Mann finden würde, der dumm genug war, sie zu heiraten. Es stimmte zwar, daß sie einmal ein beträchtliches Vermögen erben würde und ihr schon jetzt diese Monstrosität von einem Herrenhaus, Cotes Hall, gehörte, wohin sie sich, sobald der Ring an ihrer Hand steckte und der Trauschein unterschrieben war, in der Ekstase jungen Eheglücks zurückziehen würde, doch Cecily konnte sich nicht vorstellen, daß das Vermögen - wie groß auch immer - oder das bröckelnde viktorianische Herrenhaus - ganz gleich, wie prächtig man es wieder herrichten lassen konnte - einen Mann dazu verleitet haben konnte, sich zu einem Leben mit Rebecca zu verurteilen. Doch jetzt... sie erinnerte sich der morgendlichen Szene in der Toilette. Sie hatte gehört, wie Rebecca sich übergeben und dann schrill gefragt hatte: »Geht das vielleicht jetzt jeden Morgen so?«
»Rebecca!« hatte ihre Mutter besänftigend gesagt. »Bitte! Wir haben Gäste im Haus.«
Worauf Rebecca geschrien hatte: »Das ist mir doch egal.
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