06 - Denn keiner ist ohne Schuld
Geistlichen vorgenommen, zwischen einem widerstrebenden Bräutigam, der die Haushälterin des Pfarrers liebt, und einer wutschäumenden Braut, die auf bittere Rache sinnt. Da lohnte es sich doch fast, Brautjungfer zu sein. »Nein, Onkel St. John. Doch nicht der Pfarrer. Du meine Güte, so ein Skandal.«
Ihr Onkel warf ihr einen scharfen Blick zu. Er deutete mit spitzem Finger auf sie und wollte gerade zu sprechen beginnen, als der Vorhang von neuem auf die Seite gezogen wurde. Wie auf Kommando drehten sie sich alle herum. An der Tür stand der Dorfpolizist. Seine dicke Jacke war voller Schnee, die Gläser seiner Brille beschlagen. Er hatte keine Mütze auf, und sein rotes Haar war mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt.
»Und?« fragte Townley-Young. »Haben Sie ihn gefunden, Shepherd?«
»Ja«, antwortete der Constable. »Aber der traut niemanden mehr.«
JANUAR: FROST
1
»Was war das für ein Schild? Hast du es gesehen, Simon? Es war so eine Art Plakat am Straßenrand.«
Deborah St. James bremste den Wagen ab und sah sich um. Sie hatte die Kurve schon hinter sich, und das dichte Gestrüpp kahler Äste von Eichen und Kastanien verbarg sowohl die Straße selbst als auch die von Flechten überzogene Kalksteinmauer die Straße entlang. »War da ein Hotelschild? Hast du eine Einfahrt gesehen?«
Simon St. James riß sich von den Gedanken los, die ihn auf der langen Fahrt vom Flughafen in Manchester gefangen gehalten hatten: Da war einerseits das winterliche Hochmoor Lancashires mit seinen gedämpften rostroten Farben und dem zartgrünen Weideland; andererseits hatte er darüber gerätselt, mit welchem Instrument man einen dicken Elektrodraht durchtrennen konnte, um damit die Hände und Füße einer weiblichen Leiche so zu fesseln, wie sie in der letzten Woche in Surrey gefunden worden war.
»Eine Einfahrt?« wiederholte er. »Kann schon sein, daß da eine war. Aber ich habe nichts gesehen. Das Schild war ein Hinweis auf die Dorfwahrsagerin.«
»Ach, hör auf!«
»Wirklich! Ist das vielleicht ein Service, den das Hotel bietet und von dem du mir nichts gesagt hast?«
»Nicht, daß ich wüßte.«
Die Straße begann zu steigen, und in der Ferne, vielleicht noch anderthalb Kilometer entfernt, schimmerten die Lichter eines Dorfes. »Wir sind wahrscheinlich einfach noch nicht weit genug gefahren.«
»Wie heißt das Hotel?«
»Crofters Inn.«
»Nein, das stand eindeutig nicht auf dem Schild. Vergiß nicht, daß wir hier in Lancashire sind. Es wundert mich, daß das Hotel nicht Zum Hexenkessel heißt.«
»Dann wären wir nicht hergekommen, Schatz. Mit fortschreitendem Alter werde ich nämlich abergläubisch.«
»Ach, so das ist das.«
Er lächelte. Mit fortschreitendem Alter. Sie war gerade fünfundzwanzig und verfügte über die ganze Kraft und den Elan der jungen Jahre.
Aber sie sah müde aus - er wußte, daß sie in letzter Zeit schlecht geschlafen hatte -, und ihr Gesicht war blaß. Ein paar Tage auf dem Land, lange Spaziergänge und viel Ruhe, das war es, was sie jetzt brauchte. Sie hatte in den letzten Monaten zuviel gearbeitet, mehr als er, und war morgens viel zu früh zu Fototerminen aufgebrochen, die mit ihren eigentlichen Interessen nur am Rande zu tun hatten. Ich möchte meinen Horizont erweitern, pflegte sie zu sagen. Landschaften und Porträts reichen nicht, Simon. Ich muß vielseitiger werden. Ich würde meine neuen Arbeiten gern im kommenden Sommer ausstellen. Aber ich bekomme die Bilder nicht zusammen, wenn ich mich nicht auf die Socken mache und Neues ausprobiere, ein paar Kontakte knüpfe und so... Er erhob keine Einwände und versuchte nicht, sie zurückzuhalten. Er wartete einfach darauf, daß die Krise vorbeigehen würde. Sie hatten in den ersten zwei Jahren ihrer Ehe mehrere kritische Phasen gemeistert. Diese Tatsache versuchte er sich vor Augen zu halten, wenn er die Hoffnung zu verlieren drohte, daß sie dies momentan nicht meistern würden.
Sie schob eine kupferrote Haarsträhne hinter ihr Ohr zurück, legte den Gang ein und sagte: »Dann laß uns doch weiterfahren, ins Dorf, ja?«
»Es sei denn, du möchtest dir vorher aus der Hand lesen lassen.«
»Meine Zukunft, meinst du? Nein, besten Dank.«
Er hatte die Bemerkung ganz ohne Absicht gemacht. Der falschen Munterkeit ihrer Antwort entnahm er, daß sie es anders verstanden hatte. »Deborah«, sagte er.
Sie nahm seine Hand. Den Blick auf die Straße gerichtet, drückte sie sie an ihre Wange. Ihre Haut war kühl. Sie war weich,
Weitere Kostenlose Bücher