06 - Prophet der Apokalypse
klebte. Und sie erlebten beide das, was ihnen die Schemen aus der jenseitigen Kammer mit Hilfe des Rings zeigen wollten. Was sich mit der mörderischen Urkraft eines explodierenden Sterns in ihre Köpfe brannte.
Mit schrecklichen Konsequenzen für den mental begabteren der beiden Freunde …
***
Diego erwachte am Boden liegend. Sein Oberkörper schnellte hoch. Der ehemalige Padre sah sich um. Für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen, dann kehrte die Umgebung ebenso wie die Erinnerung zurück.
Die Erinnerung an die Bilder, die sich wie glühende Lava durch sein Gehirn gewälzt hatten, als wollten sie es verdampfen.
Ts’onot lag ganz nah bei ihm, und die Hand mit dem Ring schien auf Diego zu zeigen.
Er kroch zu dem Maya hinüber. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, nicht nur wegen der Vision, sondern auch vor Sorge um den Menschen, dem er so verbunden war wie keinem anderen.
Ts’onots Haut fühlte sich warm an, als Diego nach der Halsschlagader tastete. Doch der Puls war nur schwach fühlbar, als quälte sich das Herz bei jedem Schlag.
Diego drehte Ts’onot auf den Rücken. Das Gesicht des Freundes sah aus wie eine Maske aus erstarrtem Schmerz. Aber noch mehr erschrak Diego wegen des Blutfadens, der aus einem der Nasenlöcher rann.
Vorsichtig tätschelte er die Wangen des Bewusstlosen und rief seinen Namen. »Ts’onot! Ts’onot, kannst du mich hören? Komm zu dir!«
Nach einer scheinbaren Ewigkeit zuckten beide Lider. Aber das Öffnen der Augen brachte kein Wiedersehen zweier Freunde. Stumpf und leer wirkten Ts’onots Pupillen.
Diego hatte das Gefühl, in ein verschlingendes Nichts zu starren. Ein Nichts, das Ts’onot bereits verschlungen hatte. Er räusperte sich. »Hörst du mich? Erkennst du mich?«
Ts’onot blickte durch ihn hindurch. Der Blutfaden aus dem Nasenloch wurde dicker.
Diegos Hände krampften sich ins Haar des Maya. »Komm zu dir! Komm – zu – dir!«
Überraschend kehrte die Seele des Freundes doch noch einmal aus der Ferne zurück, in die es sie verschlagen hatte. Seine Lippen bebten, in die Pupillen mischte sich etwas Undefinierbares, das aber tausendmal mehr an Leben war als noch ein paar Atemzüge zuvor.
»Freu-n-d …«
»Ich dachte schon –«
Weiter kam Diego nicht, weil Ts’onot ihn stoppte. Wortlos, nur mit einem Blick, in dem die Bitte geschrieben stand: Unterbrich mich nicht. Hör nur zu. Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt!
»Ich sah … das Zeitenende …«, krächzte der Prophet.
Diego nickte als Zeichen dafür, dass auch er es miterlebt hatte, und Ts’onot fuhr fort:
»Ich sah, dass … es nicht … der Wille der Götter ist! Der Weiße ist ein …« Das Wort, das Ts’onot benutzte, hatte Diego nie zuvor gehört und verstand es daher nicht. Ts’onot aber fuhr bereits fort: »Die Maschine darf … nie benutzt … werden! Sie muss … zerstört werden … um jeden Preis!«
Ts’onot sank in sich zusammen. Sein ohnehin aschfahles Gesicht verlor jede Farbe, und für einen Moment schien es Diego sogar, als würde das aus der Nase rinnende Blut ganz hell, fast durchsichtig werden.
Dann: ein tiefer Atemzug. So saugend und fordernd, als hinge alles davon ab, noch einmal Luft zum Weitersprechen zu gewinnen.
Mit nun wieder geschlossenen Augen röchelte Ts’onot: »Es gibt nur zwei … mächtige Waffen, um den Himmelsstein … zu zerstören!«
Wieder rang Ts’onot nach Luft.
»Welche?«, hielt Diego es nicht länger aus, obwohl ihn Ts’onots Schicksal in diesem Augenblick so viel mehr kümmerte als der drohende Weltuntergang. »Wenn du es gesehen hast, sag es mir!«
»Der Feuerkranz … und die Nadel der Götter …«, hauchte Ts’onot.
»Wo finde ich diese Waffen?«
»Nicht hier …«, rann es erneut wie aus den dunklen Tiefen von Ts’onots Mund, »… und nicht jetzt. In der Zukunft …«
Bevor er geendet hatte, sank sein Kopf zur Seite, und in einem Schwall trat Blut aus Mund, Nase und Ohren.
Als Diego sich gefasst hatte, tastete er erneut nach dem Puls, fand ihn aber nicht mehr.
Ts’onot war gegangen. An einen Ort, wohin Lebende ihm nicht zu folgen vermochten.
»Ich hoffe, du bist jetzt bei Ah Ahaual und nimmst deinen Platz im Paradies neben ihm ein.« Mit kratziger Stimme sprach Diego de Landa wie zu sich selbst. All seine Gedanken waren bei Ts’onot, den die Wucht der Vision umgebracht hatte. Er muss sie um ein Vielfaches klarer und erdrückender erlebt haben als ich. Aber warum habe ich überhaupt daran
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