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Was sie nicht weiss

Was sie nicht weiss

Titel: Was sie nicht weiss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone van Der Vlugt
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1
    Der Mann steht auf dem Dach des Wohnblocks, gefährlich nah am Rand. Von unten ist er im Nebel des Dezembermorgens kaum zu sehen. Er hätte unbemerkt springen können, wäre er nicht einer Passantin aufgefallen, die zufällig hochschaute und sofort die Polizei alarmierte.
    »Ich glaube, er ist nicht allein«, hatte die Frau gesagt. »Es sieht aus, als ob ein Kind neben ihm steht.«
    Die Meldung an sich hätte schon gereicht, um den gesam ten Polizeiapparat in Bewegung zu setzen, doch dass der Lebensmüde womöglich ein Kind bei sich hat, macht die Sache noch dringlicher.
    Lois hört über Polizeifunk die Durchsage der Einsatzzentrale und wirft ihrem Kollegen Fred Klinkenberg auf dem Fahrersitz einen Blick zu: »Judith Leysterstraat, das ist doch ganz in der Nähe, oder?«
    »Keine fünf Minuten von hier.«
    Eigentlich sind für solche Einsätze die Streifenpolizisten zuständig. Da es jetzt aber auf jede Sekunde ankommt, reißt Fred das Steuer herum und gibt Vollgas.
    »11.18, hier 89.22. Fred und ich sind nicht weit von der Judith Leysterstraat entfernt und schon auf dem Weg. Ist eventuell jemand näher dran?«
    »89.22, nein. Fahrt hin und seht zu, dass ihr die Situation unter Kontrolle bekommt. Ich schicke einen Verhandler.«
    »11.18, verstanden. Wir sind gleich da.«
    Kurz darauf erreichen sie die Judith Leysterstraat, wo neben einem Einkaufszentrum ein zwölf Etagen hoher Wohnblock aufragt.
    Lois späht durchs Seitenfenster empor, erkennt aber wegen des Nebels nichts. »Wer das gemeldet hat, muss Adleraugen haben«, sagt sie.
    »Vielleicht steht er an der Rückseite.« Fred steuert den Parkplatz neben dem Gebäude an.
    Das Auto steht noch nicht ganz, da steigt Lois bereits aus und rennt zur offenen Tür, wo ein glatzköpfiger Mann um die fünfzig wartet.
    »Ich bin Jan Fossen, der Hausmeister«, stellt er sich vor. »Die Frau, die Sie benachrichtigt hat, hat mir Bescheid gesagt.«
    »Waren Sie schon oben? Wissen Sie, ob da wirklich jemand steht? Es ist sogar von zwei Personen die Rede.« Lois drückt hektisch auf den Rufknopf am Aufzug und blickt sich nach Fred um, der gerade auf die Tür zueilt.
    »Ja, ich hab nachgesehen. Die Dachluke ist aufgebrochen worden. Als ich rausgeguckt hab, waren da zwei Leute: ein Mann und ein Junge. Auf mein Rufen haben die nicht reagiert. Da bin ich wieder runter, um auf Sie zu warten.«
    Die Lifttür öffnet sich, und sie steigen zu dritt ein. Die Enge in der Kabine verursacht Lois Beklemmungen; sie atmet mehrmals tief durch.
    »Sprich du mit dem Mann«, sagt Fred auf dem Weg nach oben. »Du weißt ja, Reden ist nicht mein Ding. Und wir können nicht auf den Verhandler warten.«
    »Kein Problem, ich mach so was ja täglich.« Lois verzieht das Gesicht, protestiert aber nicht weiter.
    Mit seiner Erfahrung aus vierzig Dienstjahren ist Fred ein hervorragender Ermittler, aber Reden ist tatsächlich nicht sein größtes Talent. Vermutlich würde er sich dem Mann nervös hüstelnd nähern und keinen Anfang finden. Sie selbst weiß jetzt zwar auch noch nicht, was sie sagen soll, verlässt sich aber auf ihre Intuition.
    »Wir sind da, von hier kommt man aufs Dach.« Nachdem der Hausmeister aus dem Aufzug gestiegen ist, deutet er nach oben auf die offene Luke. Neben der Ausziehleiter liegt ein Hammer am Boden – das Werkzeug, mit dem das Schloss weggeschlagen wurde.
    »Dann mal los.« Fred setzt den Fuß auf die unterste Sprosse.
    »Fahren Sie bitte wieder runter und warten Sie dort auf unsere Leute«, bittet Lois den Hausmeister.
    Er nickt und geht nach einem Blick auf Fred, der jetzt die Leiter hinaufsteigt, zurück in den Lift.
    Kaum hat ihr stämmiger Kollege sich durch die Öffnung gezwängt, klettert Lois hinterher.
    Dann sieht sie den Mann und das Kind. Die beiden stehen am Rand des Dachs, zwei in Nebelschwaden gehüllte Silhouetten. Ihr erster Impuls ist, sofort loszulaufen, aber sie bleibt doch erst neben Fred stehen, der fröstelnd den Jackenkragen hochstellt.
    »Geh hin, ich halt mich erst mal im Hintergrund«, flüstert er.
    Sie nickt.
    Der Nebel bietet auch Vorteile, er dämpft die Geräusche. Aber anscheinend hat der Mann doch etwas gehört, denn er blickt kurz über die Schulter.
    Vorsichtig geht Lois auf ihn zu. Als sie in Hörweite ist, spricht sie ihn an: »Hallo. Bitte erschrecken Sie nicht. Ich bin von der Polizei. Bleiben Sie ruhig stehen, bewegen Sie sich nicht.«
    Wieder blickt der Mann sich um.
    »Keinen Schritt weiter!«, ruft er panisch. »Sonst springen

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