06 - Weihnacht
Viertelstunde vergangen sein, da stieg er ab, schlang einen Riemen an die Zügel, um sein Pferd anzupflocken, und sagte:
„Mein Bruder Rost mag hier bei den Pferden bleiben und sich sehr still verhalten. Wir werden ihm unsere Gewehre geben, um uns leichter an die zwei Bleichgesichter anschleichen zu können. Er soll, selbst wenn wir um Mitternacht noch nicht zurückgekehrt wären, keine Sorge um uns haben und sich ja, bis wir wiederkommen, nicht von dieser Stelle entfernen! Jetzt komm, Scharlih!“
„Darf ich wirklich so ohne Sorge um Euch sein, Mr. Shatterhand?“ fragte mich der Angeredete.
„Ja“, antwortete ich.
„Auch selbst dann, wenn mir vielleicht eine innere Stimme sagt, daß Ihr Euch in Gefahr befindet?“
„Auch dann. Ihr habt überhaupt nicht auf diese Eure innere Stimme, sondern nur auf uns zu hören. Es gibt keine Gefahr für uns, und sollte es eine geben, so würdet Ihr durch eine etwaige Eigenmächtigkeit das Übel nur noch ärger machen. Ihr habt auf alle Fälle hier zu warten, bis wir wiederkommen, selbst wenn dies erst morgen früh geschehen sollte!“
Ich gab ihm meinen Bärentöter und den Henrystutzen und folgte dann dem Apatschen, welcher sich hier jeden Strauch gemerkt zu haben schien, so groß war die Sicherheit, mit welcher er mich erst durch das Gebüsch und dann in den vom Unterholz freien Wald führte. In diesem war es finster; darum nahm er mich bei der Hand.
Er bewegte sich, wie ich bemerkte, in einem Bogen um den Ort, den er erreichen wollte, und wurde um so vorsichtiger, je mehr wir uns demselben näherten. Dann ließ er meine Hand los, legte sich nieder und kroch auf den Händen und Füßen weiter. Selbstverständlich folgte ich ihm in derselben Weise. Bald hörten wir Stimmen. Indem wir uns langsam und geräuschlos vorwärtsschoben, erreichten wir die letzten Bäume am Waldesrand und hatten die Gesuchten nahe vor uns im Grase sitzen. Nicht weit von ihnen waren die dunklen Umrisse ihrer angehobbelten Pferde zu bemerken.
Das Glück war uns außerordentlich günstig, denn die beiden Personen sprachen grad jetzt über einen Gegenstand, welcher für mich von höchstem Interesse war. Als wir uns ihnen soweit genähert hatten, wie es möglich war, hörte ich die Worte:
„Ja, ich bin auch überzeugt, daß dieser Sheriff sehr fleißig nach uns forschen wird. Grad weil er einsehen mußte, daß er sich auf so falschem Wege befunden hatte, gibt er sich nun die größte Mühe, diesen Irrtum quitt zu machen. Ich möchte nur wissen, wer dieser fremde Dutchman gewesen ist!“
„Ein Zeitungsschreiber, weiter nichts!“ antwortete der andere, dessen Stimme mir sofort bekannt vorkam, obwohl er in gedämpftem Tone sprach.
„Das bezweifle ich! Der Kerl ist in einer Weise gegen dich aufgetreten, die mehr als bloß einen Tintenklecker in ihm vermuten läßt.“
„Er hat aber doch das Gedicht gemacht und muß also ein Federfuchser gewesen sein!“
„Kannst du darauf schwören, daß er da nicht gelogen hat?“
„Schwören wohl nicht. Aber was für einen Grund sollte er gehabt haben, sich für den Verfasser auszugeben, Streit mit mir anzufangen und dann die Gedichte zu verbrennen?“
„Das weiß ich allerdings auch nicht.“
„Übrigens war dieses Verbrennen ein Unsinn von ihm, denn ich habe das Poem, welches wirklich gar nicht schlecht ist, auswendig gelernt und werde es wieder drucken lassen, wenn ich noch einmal die Veranlassung haben sollte, als frommer Prayer-man aufzutreten.“
„Das kommt nicht wieder vor, denn unser jetziger Streich bringt uns soviel ein, das wir das Geschäft aufgeben und uns zur Ruhe setzen können. Es ist nur gut, daß wir die Nuggets dieses albernen Watter so rasch in Geld umsetzen und dieses deponieren konnten, und daß die beiden Lachner mit ihren Reisevorbereitungen fertig waren und gleich mitfahren konnten.“
„Ob es wohl so notwendig war, die Eisenbahn zu benutzen?“
„Ganz gewiß! Wir mußten möglichst schnell aus dem Staate Missouri verschwinden, in welchem du es nie wieder wagen dürftest, deine fromme Rolle zu spielen. Man würde den salbungsvollen Prayer-man wohl schnell bei den Haaren nehmen. Du hast überhaupt von Glück zu sagen, daß man nicht schon längst auf dich aufmerksam geworden ist. Man hätte doch unbedingt darauf kommen müssen, daß, wo ein solcher wohlvorbereiteter Einbruch geschah, du stets vorher dagewesen warst!“
„Pshaw! Meine Frömmigkeit machte die Leute blind. Es macht mir noch jetzt Spaß, daß der Wirt
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