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06 - Weihnacht

06 - Weihnacht

Titel: 06 - Weihnacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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erst durch lange Übungen die Fertigkeit gewinnt, sich seiner Sinne zu bedienen; dann aber, wenn man ihn einmal besitzt, kann man sich auf ihn ebenso fest wie auf das Auge oder das Ohr verlassen; ja, es kommt sogar nicht selten vor, daß er den Ausschlag gibt, wenn die Ergebnisse von Gesicht und Gehör einander widersprechen. Kein Mensch besitzt diesen Sinn in so hoher Schärfe und Entwicklung wie Winnetou. Ich bin doch gewiß kein Neuling, aber es hat Fälle gegeben, in denen selbst ich im höchsten Grade über die Sicherheit erstaunte, mit welcher er Dinge vorhersagte, auf welche ich mit all meinem Scharfsinn nicht gekommen wäre. Diese Ankündigungen sind dann stets so genau in Erfüllung gegangen, als ob er die betreffenden, in der Zukunft liegenden Verhältnisse ganz deutlich vor seinen Augen gehabt hätte. Wenn ich diesen Sinn nicht auch besäße, wäre ich da wohl zuweilen versucht gewesen, anzunehmen, daß er zu den Menschen gehöre, welche mit dem sogenannten ‚zweiten Gesicht‘ begabt sind. Doch, Ihr seht, daß er uns weit vorangekommen ist. Wollen uns beeilen, ihn wieder einzuholen! Ich vermute, daß wir heut am Lake Jone nicht so unbeschäftigt sein werden, wie wir es an unsern bisherigen Lagerstätten gewesen sind.“
    „Denkt Ihr etwa an eine Gefahr, Mylord?“
    „Nein. Wer Winnetou, den Häuptling der Apatschen, bei sich hat, für den wird manches, was sonst gefährlich sein würde, vollständig unbedenklich. Wir werden eine interessante Unterhaltung à la Wildwest haben, weiter nichts. Kommt, Mr. Rost!“
    Wir trieben unsere Pferde an, um Winnetou, der seinen schnellen Schritt beibehalten hatte und uns infolgedessen vorausgekommen war, wieder einzuholen; dann folgten wir der Spur, welche grad auf den Lake Jone zuführte, so lange, bis sie sich trennte. Drei Pferde waren in der bisherigen Richtung weitergegangen, zwei nach der rechten Seite von ihr abgewichen. Winnetou ritt, ohne sich zu besinnen, auf der letzteren Fährte weiter. Das konnte sich Rost nicht erklären, weshalb er mich fragte:
    „Warum reiten wir nicht geradeaus, Mr. Shatterhand? Diese neuen Eindrücke führen doch wohl nicht zum See, wohin wir wollen!“
    „Sie führen hin“, antwortete ich.
    „Wirklich? Sie gehen aber doch von der Richtung ab!“
    „Nur einstweilen. Später werden beide Fährten wieder zusammenstoßen. Winnetou ist, sobald er sah, daß sie sich trennten, sofort mit seiner Berechnung fertig gewesen. Ahnt Ihr, was er vermutet?“
    „Nein. Ich bin so ahnungslos wie ein Kind.“
    „Beide Abteilungen wollen nach dem See; die zweite will sich aber von der ersten zunächst nicht sehen lassen, weil sie wahrscheinlich die Absicht hat, sie zu belauschen.“
    „Hm! Ist der Apatsche denn allwissend?“
    „Wenn er es wäre, würde ich es auch sein, weil ich ganz dasselbe denke. Der Erfolg wird zeigen, daß wir recht haben. Es kann kein anderer Grund zu dieser Trennung vorliegen.“
    „Aber hätten wir da nicht auch wohl Veranlassung, die erste Abteilung zu belauschen?“
    „Allerdings. Wichtiger aber ist es, zu erfahren, was die zweite für einen Grund hat, Personen, mit denen sie zusammengehören, heimlich auszuhorchen. Wir haben hier den Beweis, daß das, was ich vorhin von ihnen gesagt habe, wahr ist: Sie haben etwas vor, was entweder alle ihre drei Kameraden oder wenigstens einer von diesen nicht wissen sollen. Wenn aber Leute, welche die Gefahren des Westens miteinander tragen sollen, Heimlichkeiten voreinander haben, so mangelt ihrem Verhältnisse die grad hier so notwendige Ehrlichkeit. Es ist vorauszusehen, daß wir mit diesen fünf Personen zusammentreffen, und darum ist es vor allen Dingen notwendig, hinter die Schliche der Heimlichtuer zu kommen. Wir reiten also zunächst ihnen nach, um ihnen, wenn es notwendig ist, auf die Finger zu klopfen. Auf den Pfaden, welche Winnetou und Old Shatterhand reiten, werden keine Niederträchtigkeiten geduldet!“
    „So kann es wohl gar zu Feindseligkeiten zwischen ihnen und uns kommen?“
    „Ja.“
    „Das ist höchst interessant! Jetzt freue ich mich darüber, daß wir auf diese Fährte getroffen sind!“
    „Wahrscheinlich gibt es unter den drei Reitern auch jemand, der sich ebenso und noch mehr als Ihr darüber zu freuen hat. Wir werden das sehr bald erfahren, denn wir haben nur noch eine halbe Stunde zu reiten, bis wir den See erreichen.“
    Diese Voraussagung bewahrheitete sich, denn die angegebene Zeit war noch nicht ganz verflossen, so sahen wir im Südwesten

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