06 - Weihnacht
von uns einen dunklen Strich am Horizonte, der das Gehölz bedeutete, welches sich rund um den See herumzog. Anstatt der Fährte weiter zu folgen, wich Winnetou, noch weiter rechts ausbiegend, von ihr ab. Rost konnte den doch so naheliegenden Grund dazu nicht einsehen und fragte mich nach demselben. Ich bin auch kein Freund vom unnützen Sprechen und habe mich, sooft ich mit Winnetou allein war, stets ebenso schweigsam verhalten wie er; aber ein Neuling, der Rost doch war, muß unterrichtet werden, und da die Rolle des Belehrenden nun einmal mir zugefallen war, konnte ich mich derselben nicht entziehen und gab ihm also die gewünschte Auskunft, indem ich antwortete:
„Die drei sind so geritten, daß sie den See in seiner südlichen Gegend erreicht haben. Die zwei ritten weiter rechts, also nördlich, um an einer Stelle auf ihn zu treffen, wo sie von den dreien nicht gesehen werden können. Von da aus wollen sie sich an sie schleichen. Da wir sie nun ebenso belauschen wollen wie sie die anderen, dürfen sie uns auch nicht sehen. Darum gehen wir nun von ihrer Fährte ab, um von Norden her an das Wasser zu kommen. Ihr werdet gleich sehen, daß Winnetou sein Pferd zum Galopp antreiben wird.“
„Wozu das?“
„Weil ein galoppierendes Pferd sich schneller und tiefer am Boden bewegt und also von weitem nicht so leicht gesehen werden kann wie ein langsam gehendes; auch wird dadurch die Zeit einer doch leicht möglichen Beobachtung bedeutend abgekürzt.“
„Aber die zwei können uns doch gar nicht sehen und beobachten, weil sie so weit südlich von uns sind!“
„Ganz richtig eigentlich; aber der vorsichtige Westläufer hat mit allen Möglichkeiten zu rechnen. Wenn sie so vorsichtig sind, wie wir an ihrer Stelle sein würden, so suchen sie den Wald eine hinreichende Strecke weit ab, um sich zu überzeugen, daß sich niemand in der Nähe befindet und sie also sicher sind. Dabei können sie so weit nördlich kommen, daß sie unsere Annäherung bemerken würden, wenn wir nicht so klug wären, ihnen weit genug auszuweichen.“
„Schön! Wollen sehen, ob er wirklich galoppieren wird!“
Er hatte diese Worte, welche Winnetou gar nicht hörte, kaum ausgesprochen, so trieb dieser sein Pferd durch ein aufmunterndes Zungenschnalzen an und flog dann in Karriere vor uns hin. Wir folgten natürlich in demselben Tempo.
Der den See umgebende Wald schickte uns einen Buschausläufer entgegen, hinter welchem wir anhielten und abstiegen. Die Stelle, an welcher wir uns befanden, konnte von derjenigen, wo die zwei Männer zu vermuten waren, vielleicht eine englische Meile entfernt sein. Winnetou gab seinem Pferde das Maul zum Grasen frei und sagte:
„Meine weißen Brüder mögen auf mich warten!“
Mit diesen Worten verschwand er im Gebüsch, nachdem er seine Silberbüchse von der Schulter genommen und mir gegeben hatte.
„Wo will er hin?“ fragte Rost.
„Nach den Leuten suchen, die wir beobachten werden.“
„Warum nimmt er sein Gewehr nicht mit?“
„Weil es ihm hinderlich werden kann. Es ist möglich, daß er streckenweit durch das Gebüsch kriechen muß, wobei einem ein langes Gewehr natürlich im Wege ist.“
„Was tun wir inzwischen?“
„Wir setzen uns nieder und warten. Es kann leicht eine ganze Stunde dauern, bis er wiederkommt. Macht es Euch und den Pferden also bequem; ich will inzwischen nachsehen, ob sich niemand in der Nähe befindet.“
Ich suchte den Rand des Waldes sorgfältig ab, fand aber kein Anzeichen von der Gegenwart eines menschlichen Wesens und kehrte dann zu ihm zurück. Die wegen des dazwischen liegenden Waldes für uns unsichtbare Sonne mußte fast am Horizonte stehen; es war also nach ungefähr einer halben Stunde die Dämmerung zu erwarten.
Die Schatten wurden länger und immer länger, bis sie ihre Spitzen ganz über die östliche Ebene hinauswarfen, worauf es schnell zu dunkeln begann. Grad als das Licht im Verschwinden war, kehrte der Apatsche zurück. Er stieg auf sein Pferd und ritt, ohne ein Wort zu sagen, dem Walde entlang in südlicher Richtung fort; wir folgten ihm. Rost war neugierig. Er hätte gern gewußt, ob Winnetou seinen Zweck erreicht hatte, getraute sich aber nicht, ihn mit Fragen zu belästigen. Ich war auch still, denn ich wußte, daß der Häuptling sprechen würde, sobald er es für nötig hielt. Er hatte die Gesuchten jedenfalls gefunden, denn daß er wußte, wo sie waren, ersah ich aus der Sorglosigkeit, mit welcher er uns voranritt.
Es mochte eine gute
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