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06 - Weihnacht

06 - Weihnacht

Titel: 06 - Weihnacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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geworden wäre. Er bekam einen Blutsturz, und es dauerte fast zwei Monate, ehe wir weiterkonnten; da ist das bißchen Reisegeld alle geworden.“
    „Aber mein Gott, da hättet ihr doch nicht weiter sondern wieder heimgehen sollen!“
    „Heim? Was wollten wir dort, wo wir nichts mehr hatten und wo es uns schon vorher schlechtgegangen war? Wir haben doch die Schiffskarten, und drüben wartet mein Mann auf mich.“
    „Ja, richtig! Aber es ist doch ein Kreuz und ein Elend, sich so ohne Geld und in einer solchen Kälte bis nach Bremen durchzubetteln! Ich weiß gar nicht, wie lange man da zu laufen hat, um hinzukommen. Wißt denn ihr den Weg?“
    „Wir haben gefragt und werden uns auch weiter so durchfragen.“
    „Na, sehr weit werdet ihr wohl nicht kommen, wenn der alte Mann so bleibt, wie er jetzt da auf dem Stuhle sitzt!“
    „Wir werden uns ausruhen, wenn er es nur noch einen oder zwei Tage aushalten kann. Wir haben droben in Graslitz einen Verwandten, einen Blasinstrumentenmacher, der uns bei sich behalten wird, bis sich der Vater erholt hat.“
    „Nach Graslitz wollt Ihr? So hoch hinauf, bei diesem Schnee? Leute, ihr seid verrückt!“
    „Oder auch sie sind nicht verrückt“, sagte seine Frau. „Man soll nur Mitleid haben. Der Paß wird wohl richtig sein; aber ob sie auch wirklich nach Amerika oder nur so herumzigeunern wollen, das ist eine andere Frage.“
    Da begann die Fremde zu weinen, wickelte noch ein Kuvert aus dem Tuche, gab es dem Wirte und schluchzte:
    „Wir sind nur unglückliche Leute, aber keine Vagabunden. Wenn Sie sich überzeugen wollen, so machen Sie dieses Kuvert auf; die Schiffskarten liegen drin!“
    „Nein, behalten Sie es nur; ich brauch' es nicht sehen“, sagte Franzi, den die Tränen der Frau rührten. „Wollen sehen, was wir mit euch machen. Vor allen Dingen werdet ihr Hunger haben. Setzt euch dort an den Tisch!“
    Die Frau warf ihm einen innigen Blick des Dankes zu und folgte seiner Aufforderung; die Wirtin aber stand unwillig brummend von ihrem Stuhle auf und verschwand in der Küche. Als sie hinaus war, raunte uns Franzi in vertraulichem Tone zu:
    „Jetzt ist sie wild; aber ich tu doch, was ich will. Mann ist Mann, und wenn er tausend Weiber hat, annus producit, non ager, und nach dem Stalle werde ich diese armen Teufel doch nicht weisen.“
    Auch wir zwei fühlten Mitleid mit den Leuten und taten ungesäumt, was wir, die wir hier nichts zu sagen hatten, tun konnten: Ich trug mein volles Weinglas dem Alten hin, um ihn trinken zu lassen, und Carpio, dessen Teller noch voll war, gab ihn dem Knaben, der sich mit wahrem Heißhunger sofort über das Essen machte.
    Es verging eine ziemliche Weile, ohne daß die Wirtin wiederkam; da wurde nun auch Franzi wild; er stand vom Tische auf und ging in die Küche, aus welcher dann die durch die Tür unterdrückten Töne eines sehr unregelmäßig komponierten Duettes zu uns drangen. Im ersten Teile hatte der sehr erregte Diskant die Führung, während der Baß nur zuweilen in besänftigender Weise einfiel; dann aber änderte sich die Stimmführung allmählich, bis sich der Baß in sehr kräftigen Kadenzen produzierte und der Sopran seine Existenz in einem verschwindenden Triller aushauchte, dem wir es deutlich anhörten, daß die Wirtin in der Küche durch eine zweite Tür Valet sagte. Dann kam Franzi strahlenden Gesichtes wieder.
    „Sie ist zur Nachbarin gegangen, wo nun weitergeblasen wird“, gestand er uns, die wir nicht wenig stolz auf dieses sein Vertrauen waren. „Inzwischen können wir hier machen, was wir wollen. Nun passen Sie einmal auf!“
    Er nahm die große, noch halbvolle Fisolenschüssel und trug sie den Leuten hin; er nahm die ebenso noch halbvolle Fleischschüssel und trug sie den Leuten hin; er nahm noch eine ganz volle Weinflasche und trug sie den Leuten hin; er nahm alles, was auf unserm Tische stand und lag, und trug es den Leuten hin, und als es nichts mehr zu nehmen und zu tragen gab, setzte er sich noch selber zu ihnen hin und forderte uns auf:
    „Kommen Sie auch her, meine Herren Studenten! Wir wollen uns mit diesen guten Leuten über Amerika unterhalten. Vielleicht können wir Neues von drüben erfahren, da der Mann dieser Frau geschrieben hat.“
    „Interessieren Sie sich für Amerika?“ fragte Carpio.
    Er besaß nämlich eine große Vorliebe für das Land jenseits des Atlantischen Ozeans, denn es wohnte ein Verwandter von ihm drüben, von dem seine Eltern zuweilen einen Brief bekamen. Welchen Grades die

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