Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
06 - Weihnacht

06 - Weihnacht

Titel: 06 - Weihnacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
Vom Netzwerk:
geschlossenen Auges. Er bewegte die Lippen wieder wie früher, jetzt aber nicht betend; das sah man deutlich; er schien nach Worten zu suchen, nach Worten, welche er gehört hatte und in ihrem Zusammenhange nicht wiederfinden konnte. Dann fragte er: „Und wie, wie heißt es in dem Gedicht von dem Sünder? Wie sagte er, als er um Erbarmen flehte?“
    Diesmal antwortete Carpio, ohne meinen Wink erst abzuwarten:
    „Betend faltet er die Hände, Hebt das Auge himmelan:
Vater gib ein selig Ende,
Daß ich ruhig sterben kann!
    Blicke auf Dein Kind hernieder, Das sich sehnt nach Deinem Licht;
Der Verlorne naht sich wieder;
Geh mit ihm nicht ins Gericht!'“ – – –
    „Blicke auf Dein Kind hernieder“, wiederholte der Greis, – – „das sich sehnt nach Deinem Licht; – – der Verlorne naht sich wieder; – – geh mit ihm nicht ins Gericht! – – – Nicht, nein, nein! – – nicht ins Gericht!“ rief er laut aus, indem er die Augen weit aufriß und mit einem angstvollen Blicke rund um sich starrte. Dann schloß er sie wieder; der Ausdruck der Angst verschwand; ein leises, uns zu Herzen gehendes Lächeln breitete sich über sein Gesicht, und dann kam es flüsternd und immer leiser uns langsamer werdend über seine Lippen: „Suchtest du noch im Verscheiden – – droben den Erlösungsstern – – wird er dich zur Wahrheit leiten – – und zur Herrlichkeit des Herrn –! Wahrheit – – Herrlichkeit, o Herrlichkeit – – –! Ich bin müde; ich will schlafen, schlafen gehen – – schlafen gehen – – schlafen!“
    Er legte den Kopf hintenüber und ließ ihn dann zur Seite nach der Schulter fallen.
    „Mein Gott, er stirbt – er stirbt!“ sagte der Wirt besorgt.
    „Nein, er stirbt nicht“, beruhigte ihn die Frau. „Er ist nur Müde von dem weiten, schweren Wege und von der innern Erregung jetzt. Er hat oft solche doppelte Müdigkeit. Aber schlafen muß er jetzt. Bitte, sagen Sie mir, wohin ich ihn bringen soll!“
    „Bringen? Sie werden ihn tragen müssen?“
    „Halb geht er, und halb halte ich ihn.“
    „Ich werde Ihnen helfen. Wir haben oben eine Stube mit drei Betten. Ihr Sohn mag dort das Licht nehmen!“
    Sie griffen dem Alten unter die Arme und zogen ihn empor; er kam wieder zu sich und schritt, von ihnen unterstützt, doch ohne die Augen zu öffnen, zur Tür hinaus. Als ich nun mit Carpio allein war, sagte dieser:
    „Das war eine unerwartete Weihnachtsfeier, unerwartet und ergreifend, wie ich noch keine erlebt habe! Aber, Sappho, was sagst du dazu? Diese Leute sind keine gewöhnlichen Leute, ich glaube nicht, daß sie dem gewöhnlichen, dem Arbeiterstande angehören.“
    Der allerwegs zerstreute Freund pflegte dergleichen Beobachtungen sonst nicht zu machen; ich war ganz seiner Ansicht, erkundigte mich aber:
    „Warum denkst du das?“
    „Sie haben eine Weise, sich auszudrücken, welche auf einen bessern als den gewöhnlichen Arbeiterstand schließen läßt. Und sodann hat der Alte die Disposition, den Gedankengang deines Gedichtes so schnell begriffen und sich einzelne Strophen so leicht gemerkt, daß ich darauf schwören möchte, er habe es früher mehr mit geistiger als mit anderer Arbeit zu tun gehabt. Oder bist du anderer Meinung?“
    „Nein. Ich vermute sogar noch mehr.“
    „Was?“
    „Daß diese Familie unter einem sehr schweren Schicksale gelitten hat.“
    „Verdienterweise?“
    „Ob verdient oder nicht verdient, das kann ich natürlich nicht wissen. Der angstvolle Blick, mit welchem der Greis so plötzlich aufgerissenen Auges um sich schaute, gibt auch keinen Anhalt. Diese Angst kann sich sowohl auf eigene wie auch auf erlittene Missetaten beziehen. Doch das geht uns nichts an. Ich stimme dir aber darin bei, daß es wirklich eine ergreifende Weihnachtsfeier war, die ich nicht so leicht vergessen werde.“
    „Ich auch nicht. Du hast recht: Diese Leute gehen uns eigentlich nichts an; aber ich möchte doch gar zu gern wissen, wer oder was sie sind oder vielmehr früher gewesen sind.“
    Jetzt kam der Wirt, um die bescherten Gegenstände zu holen und hinaufzutragen. Als er dann wieder zurückkehrte und sich zu uns setzte, sagte er:
    „Der Abend hat so lustig angefangen und so ernst geendet; für uns drei aber darf er noch nicht zu Ende sein. Ich freue mich, solche Leute, wie Sie sind, einmal bei mir zu haben. Wir trinken noch eine Flasche Wein und bleiben so lange wie möglich auf. Und morgen lasse ich Sie erst recht noch nicht

Weitere Kostenlose Bücher