06 - Weihnacht
erbracht, daß sie selbst ganz drüben bei sich vor unsern Kugeln nicht sicher seien. Uns aber fiel es freilich nicht ein, vor ihren Gewehren Angst zu haben.
Von jetzt an brannte des Nachts vor ihrer Hütte stets ein Feuer, damit wir uns nicht etwa unbemerkt anschleichen könnten. Im übrigen lebten wir wie Hund und Katze, welche sich möglichst fern voneinander halten. Wir machten auf unserer Seite und sie auf der ihrigen täglich Spaziergänge, ohne daß wir uns dabei gegenseitig belästigten. Sie glaubten, uns aushungern zu können, weil sie keine Ahnung von der Beschaffenheit unseres Versteckes und von unseren Vorräten hatten.
Wir waren alle ganz und gar nur auf der Pa-ware angewiesen, denn von da an, wo die Wärme des Wassers nicht mehr wirkte, lag der Schnee so hoch, daß nicht durchzukommen war, und er fiel noch immerfort in solcher Menge, daß die Feuchtigkeit, in welche er sich hier unten sofort auflöste, den See, wenn auch langsam, steigen machte. Von den draußen tobenden Winterstürmen merkten wir nur wenig, weil sie durch die rundum liegenden Höhen von uns abgehalten wurden.
Es verging Tag auf Tag, Woche auf Woche; der Dezember war schon da, und Weihnachten kam allmählich näher. Wir beschlossen, wenn wir bis dahin nicht von den Schoschonen abgeholt würden, das Fest nach deutscher Weise durch einen brennenden Lichterbaum zu begehen. Von den vorgefundenen Lichtern waren nur wenige verbraucht worden, weil wir Elktalg gebrannt hatten. Zu erwähnen ist, daß drüben, jenseits des Wassers, schon das zweite Pferd geschlachtet worden war und der Bär des Nachts das Tal unsicher machte. Er schien seine hier oben irgendwo in der Nähe liegende Villégiature in der Hoffnung, doch noch Menschenfleisch verkosten zu können, nicht aufgeben zu wollen. Drüben wurde oft auf ihn geschossen, wenn auch vergeblich; zu uns kam er nicht; entweder sah er ein, daß wegen unseres sichern Aufenthaltes nicht an uns zu kommen sei, oder er hielt uns für Leute, die er sich bis zuletzt aufheben müsse.
Von den Höhen rundum gingen sehr bedeutende Schneestürze herab, und hoch über der Schutzhütte unserer Feinde hingen die weißen Massen so schwer über, daß es mir nicht eingefallen wäre, mich auch nur eine Viertelstunde darin aufzuhalten; sie aber schienen von der drohenden Gefahr gar keine Ahnung zu haben, und uns konnte es natürlich nicht einfallen, sie vor ihr zu warnen.
Drei Tage vor dem Feste stieg ich mit Rost zur Schneegrenze hinauf, um eine junge, zum Christbaum passende Tanne zu schneiden. Während des Heruntersteigens sahen wir, daß drüben schon das dritte Pferd geschlachtet wurde; es war aber noch abgemagerter als das vorige. Was dann, wenn auch dieses letzte verzehrt worden war? Sie legten die Knochen als Lockung unter die Bäume; der Bär aber war so klug, sie heimlich zu holen und fortzutragen, anstatt sie an Ort und Stelle zu verzehren und sich durch das dadurch verursachte Geräusch zu verraten. Hunger aber schien er zu haben, denn er schnüffelte seit einiger Zeit auch bei uns herum; wir störten ihn dabei nicht, denn er war uns später doch sicher, da sein Lager sich in der Nähe zu befinden schien. Für den Winterschlaf schien der muntere Kerl heuer keine Neigung zu besitzen.
Wir füllten diesen Tag noch damit aus, daß wir Dillen für die Lichter schnitzten und allerlei Schmuck, wie ihn die Wildnis bot, für den Christbaum fertigten. Keiner freute sich mehr darüber als mein guter Carpio. Er hätte gar zu gern mitgeholfen, aber er war zu schwach. Seit Dezember war der Verfall seiner Kräfte ein zusehends rapider; wir sahen das, taten aber nicht, als ob wir es bemerkten. Sein Tod war sicher, und ich kann gar nicht sagen, wie wehe das meinem Herzen tat! Er war so kraftlos, daß er schon nicht mehr selbständig sitzen konnte. Ob er wußte, wie nahe ihm sein Ende sei, darüber schwieg er; er war von einer milden, gleichbleibenden Freundlichkeit und schien besonders mir jetzt seine Liebe doppelt zeigen zu wollen. Am Abende dieses zweiundzwanzigsten Dezembers, als er es nicht hören konnte, sagte Winnetou zu mir:
„Weißt du noch, was unten am Medicine Bow River meine Meinung über ihn war? Jetzt ist die Zeit gekommen; das Erbarmen der Erde wird ihn hier im wilden Westen willkommen heißen. Wir werden ihm hier am Pa-ware sein letztes Lager bereiten. Howgh!“
Heut hatte ich die erste Wache. Als alle sich zur Ruhe gelegt hatten, fragte mich Carpio, was draußen für Wetter sei. Ich sagte ihm, daß
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