06 - Weihnacht
keinen Schneefall gab, im Freien brennen sollten. Sie freuten sich, daß sie mit dabei sein durften, und Reiter sagte zu mir in deutscher Sprache:
„Ich habe schon früher gehört, daß Old Shatterhand ein Deutscher ist. Vielleicht interessiert es Sie, daß ich etwas besitze, was auf die deutsche Art und Weise der Weihnachtsfeier Bezug hat.“
„Was ist das?“
„Ein Gedicht.“
„Pshaw, Gedicht!“
„O bitte, es ist kein schlechtes. Ich gehöre auch nicht zu derjenigen Art von Leuten, welche jede Reimerei, mag sie sein, wie sie will, für etwas Ungewöhnliches halten. Ich bin durch Umstände, welche in meiner Familie lagen, aus der Heimat getrieben worden und dann, da ich verbittert war, nicht etwa das Muster eines vorzüglichen Menschen gewesen. Ich hatte den äußern Halt verloren und verlor dann auch den innern; ich glaubte nicht mehr an Gott. Mein Vater las das zwischen den Zeilen meiner Briefe und schickte mir dieses Gedicht als Weihnachtsgeschenk. Ich will nicht sagen, daß es mich zum frommen Manne gemacht hatte, aber es hat doch bewirkt, daß ich zum Nachdenken gekommen und nicht tiefer gesunken bin. Der Deutsche deklamiert zum Weihnachtsfeste gern etwas; darf ich es deklamieren? Ich kann es nämlich auswendig.“
„Von welchem Dichter ist es denn?“
„Von keinem berühmten, sondern im Gegenteile von einem jungen Gymnasiasten, dem mein Vater damals Unterricht in der Kompositionslehre gegeben hat, wie er mir schrieb.“
„Ein Schüler? Pshaw! Wollen das lassen! Sagen Sie mir lieber, wie Sie sich soweit vergessen konnten, an der Gesellschaft Sheppards und Genossen Gefallen zu finden!“
„Gefallen?“ antwortete er, gleich viel ernster werdend. „Glauben Sie nicht, daß es mir wohl bei ihnen gewesen ist; ich bin kein böser Mensch! Ich habe da unter einem Zwang gestanden, von dem ich mich nicht losmachen konnte. Es ist das ein Geheimnis; aber Old Shatterhand wird mich nicht verraten, wenn ich es ihm mitteile. Ich bin nämlich ein Mörder.“
Er sah mich an, als ob er erwarte, daß diese Mitteilung mir Schreck einjagen werde.
„Unsinn!“ lachte ich.
„Ja doch! Das geschah nämlich in Steelsville; ich hatte kein Geld und sah mich nach Arbeit oder einer Stelle um; da traf ich auf Sheppard; wir kamen ins Gespräch; ich klagte ihm meine Not, und er teilte mir mit, daß er zur Begleitung nach dem Westen einen Boy suche, der leidlich schießen könne. Ich bot mich ihm an, und er verlangte eine Probe. Wir gingen vor den Ort hinaus nach Guy Finells Farm hinüber. Dort lagen wir wohl eine Stunde lang am Waldesrand, ehe Sheppard ein gutes, ihm genügendes Ziel einfallen wollte. Guy Finell war in seinem Garten. Da kam eine Spottdrossel geflogen und setzte sich auf einen Ast über ihm. Da meinte Sheppard schnell, diese solle ich herunterschießen, sobald er bis drei zähle. Ich ging darauf ein; die Drossel flog unverletzt fort, aber Finell lag in seinem Blute; meine Kugel war ihm durch die Brust gedrungen. Wie das zugegangen ist, das kann ich heut noch nicht begreifen, denn ich war schon damals kein schlechter Schütze. Wir machten uns natürlich schleunigst auf die Flucht, und seitdem stand ich in Sheppards Hand. Er zeigte mich bloß unter der Bedingung nicht an, daß ich ihm ein schriftliches Eingeständnis des Mordes und einen Sichtwechsel auf fünftausend Dollars auslieferte, mit dem er mich in den Händen hatte. Ich bin seitdem geradezu sein Sklave gewesen und wagte gegen keine seiner Forderungen einen Widerspruch, bis ich unten am Platte River erkannte, was für ein Halunke er war. Er jagte mich einfach zum Teufel, damit ich nicht Zeuge seines Mordes an Welley werden könnte, mit dem ich mich dann gegen ihn verbündete.“
„Wie geschah denn eigentlich der Schuß auf die Drossel? Wo befand sich Sheppard, als Sie losdrückten?“
„Er hatte sich hinter mich gestellt.“
„Ah so! Da konnten Sie nicht sehen, was er tat! Er zählte, und Sie schossen genau bei drei?“
„Ja.“
„Fielen nicht zwei Schüsse?“
„Nein. Wie kommen Sie zu dieser sonderbaren Frage?“
„Davon später. Der Wechsel durfte Ihnen aber doch keine Angst einjagen!“
„Der freilich weniger, weil ich damit nur unter Umständen gefaßt werden konnte. Aber das Eingeständnis des Mordes! Es war zwar erzwungen, und ich hätte leugnen können, aber es wäre von ihm beschworen worden. Am schwersten aber haben mich die Selbstvorwürfe gedrückt, die mich noch jetzt des Nachts nur selten ruhen lassen. Ich habe eine
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