060 - Bis zum letzten Schrei
Sou
mehr in der Tasche.
Soiger
blickte dem Sportwagen nach, der mit hohem Tempo im Tunnelgang verschwand.
Dann war der
Burgaufseher wieder allein.
Der Morgen
war sonnig und freundlich. Nicht ein einziges Wölkchen zeigte sich am Himmel,
und es versprach auch heute wieder ein erbarmungslos heißer Tag zu werden. Das
Thermometer stand jetzt schon wieder auf fünfundzwanzig Grad.
Nachdenklich
und mechanisch räumte Soiger die Tassen und Teller weg.
Das Gesicht
des Burgaufsehers war ernst und verschlossen. Obwohl er den jungen Tullier
wegen seiner aggressiven Art nicht leiden mochte, war er froh, mit jemandem
gesprochen zu haben. Er war nicht in der Lage gewesen, heute morgen auch nur
zehn Worte mit Marie zu wechseln. Frühzeitig schon war er aus dem Haus gegangen
und hatte vorgegeben, noch eine kleine Reparaturarbeit durchführen zu müssen,
die er nicht länger vor sich herschieben konnte.
Er hoffte
nur, daß sich sein Zustand in den nächsten Tagen bessern würde, daß er die
Beklemmung und die Verzweiflung abstreifen konnte.
Er brauchte
unbedingt einen Menschen, dem er sich anvertrauen konnte. Und es gab nur einen,
der ein idealer Gesprächspartner gewesen wäre: der alte Monsieur Gerard
Tullier.
Soiger war so
in Gedanken versunken, daß er einen Moment lang unaufmerksam war.
Als er sich
hinter der Biertheke umdrehte, stieß er mit dem Ellbogen gegen eine Untertasse,
die zu nah am Rand der Theke gestanden hatte. Er konnte sie nicht mehr retten.
Der kleine Teller krachte zu Boden und zerschellte auf dem harten Stein in
zahllose Scherben.
Schaufel und
Besen lagen bereit, um die Reste zu beseitigen. Es war keine Seltenheit, daß hin
und wieder mal ein Glas oder ein Teller entzweiging.
Als er sich
bückte, hörte er das Geräusch. Es schien über ihm aus der Wand zu kommen.
Soiger hielt
den Atem an. Es war ein dumpfes Knirschen, ein Mahlen, als würden zwei
Mühlsteine aufeinandergerieben.
Dann wieder Stille.
Der
Burgaufseher merkte, wie sich ihm die Haare sträubten.
Es war außer
ihm noch jemand in der Nähe!
Soiger erhob
sich und blickte nach oben zur vier Meter hohen Decke.
»Hallo?« rief
er. »Ist da jemand?«
Seine Stimme
hallte durch den leeren Gastraum und verebbte.
Stille! Eine
unheimliche Stille.
Dann hörte
Soiger den Sand in den Wänden rieseln.
Es kam aus
dem Rittersaal.
Soiger
schluckte. Kurz entschlossen ergriff er den Besen und hielt ihn wie eine
Schlagwaffe in der Hand.
Es gab für
ihn keinen Zweifel mehr: Jemand hatte sich unbemerkt hier versteckt. Es gab
einen Eindringling, den Mörder von Edith Rouflon! Er machte sich Vorwürfe, daß
er sich in der letzten Nacht zu einer Kurzschlußhandlung hatte hinreißen
lassen.
Vielleicht
hatte alles eine natürliche Erklärung?
Soiger ging
in den Rittersaal, verharrte kurze Zeit im Schritt und lauschte. Es war jetzt
nichts mehr zu hören. Doch die Geräusche waren von oben gekommen. In der ersten
Etage waren im letzten Herbst und Winter einige Zimmer renoviert und mit Betten
versehen worden. Monsieur Tullier, der derzeitige Burgbesitzer, hatte sich mit
einer amerikanischen Touristengruppe in Verbindung gesetzt, die das ganze Jahr
über sogenannte Vision-Tours veranstaltete und zahlungskräftigen Männlein und
Weiblein ein ganz neues Gruselgefühl vermittelte. Die Reisegesellschaft reiste
quer durch Europa und besuchte nur solche Schlösser, Burgen und Festungen, die
als garantiert echte Spukschlösser angepriesen wurden.
Auch Burg
Schwarzenstein war aufgrund der Bemühungen in die engere Auswahl gekommen.
Durch die Zusagen der Reisegruppen erhoffte sich Tullier bessere Einnahmen.
Die
Renovierungskosten verschlangen Unsummen. Es kam dem Burgherrn darauf an,
seinen Besitz zu erhalten.
Insgesamt
acht Zimmer waren für die Unterkünfte der erwarteten Gäste zurechtgemacht. Im
Vertrag mit den Veranstaltern der Vision-Tours war ausdrücklich vermerkt, daß
mindestens eine Nacht in der Burg verbracht wurde. Die Gäste wollten und
sollten selbst das Gefühl erleben, wie es war, sich hinter Mauern zu befinden,
in denen ein echter Geist spukte.
Soiger ging
um den langen, schwarzen Holztisch herum, der nach der Überlieferung noch immer
so vor dem Kamin stand wie vor rund siebenhundert Jahren.
Unwillkürlich
warf der Burgaufseher einen Blick auf die Stelle, wo er in der letzten Nacht
Edith Rouflons ausgebluteten Leichnam gefunden hatte. Kein Blutfleck mehr war
zu sehen.
Dann richtete
Soiger seine ganze Aufmerksamkeit auf den gewundenen
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