061 - Im Reich der Tausend
das Pferd verreckte. Das Außenthermometer zeigte fünfunddreißig Grad minus; Tendenz fallend.
Aiko deutete mit dem Kinn nach rechts. »Da.«
Rechts vor ihnen tat sich zwischen zwei relativ gut erhaltenen Häusern eine Einfahrt auf.
Der Eissegler bog mit knirschenden Kufen ab. Dann betätigte Aiko die Bremse. Stählerne Greifer am Heck des Seglers krallten sich ins schneebedeckte Eis. Der Segler verlangsamte, bis man neben ihm hätte herlaufen können. Aiko steuerte ihn geschickt durch einen Torbogen in einen windgeschützten Innenhof und hielt an.
»Gerettet.«
Wirklich? dachte Matt. Er schaute hinaus. Der Innenhof war nicht sehr groß. Buckel im Schnee deuteten auf Bauschutt oder Autowracks hin.
»Wir sollten die Umgebung erkunden«, hörte er sich sagen. Aiko entriegelte die Transparenzkuppel. Als der Eiswind zu ihnen hereinfuhr, schauderte Matt. Er hatte Kälte noch nie gemocht. Er hasste es, wenn steifgefrorene Finger bei jeder Berührung schmerzten.
Und wenn die Gesichtsmuskeln so einfroren, dass man kaum verständlich reden konnte.
Beste Voraussetzungen also für eine Tour quer über den neuen Nordpol…
Aiko und Aruula schien die Kälte dagegen weitaus weniger auszumachen. Die Kälteresistenz seiner Gefährtin war wirklich erstaunlich. Ein typisches Kind dieser Zeit eben. Oder eine weitere Besonderheit des Volks der dreizehn Inseln, dem sie entstammte? Ihr außergewöhnlichstes Merkmal - die Gabe zu Lauschen - war seit Wochen erloschen, nach einem unglückseligen Experiment in Los Angeles.* Aruula litt sehr darunter. Matt hoffte, dass ihre telepathischen Kräfte bald zurückkehrten.
»Kommt mit!«, rief sie jetzt. »Ich hab da vorhin was gesehen!«
Sie stapften zur Einfahrt zurück und riskierten einen Blick auf das Häuser- und Ruinengewirr.
»Seht ihr? Da vorn!«, brüllte Aruula gegen den Sturmwind an.
Matt, der fröstelnd neben ihr stand, bemühte sich, den heftig fallenden Schnee mit Blicken zu durchdringen. Aruula streckte einen Arm aus und deutete auf ein Metallschild, das vor einem verfallenen Gebäude aus dem Boden ragte. Matt glaubte die Stufen einer in die Erde führenden Treppe zu erkennen.
SUBWAY stand auf dem Schild.
»Das ist die Höhle, die ich meinte!«, rief Aruula.
»Eine U-Bahn-Station!«, stellte Matt richtig.
»Was ist das… eine U-Bahn-Station?«
»Ein Tunnel, durch den ein Zug fährt. Wie die unterirdische Bahn, mit der wir in Waashton gefahren sind. Du liegst mit deiner Höhle gar nicht so falsch!«
»Ah. Na also.« Aruula sah ihre beiden Begleiter an. »Gehen wir hinein? Da unten ist es bestimmt gemütlicher als hier oben!«
Das Pfeifen des Windes nahm zu. Matt warf Aiko einen fragenden Blick zu. Der nickte.
Aruula setzte sich schon in Bewegung.
Nun schien der Schneesturm seine Kräfte erst richtig zu entfalten. Als sie aus dem Torbogen auf die Straße traten, erfasste er sie mit voller Wucht. Matt und Aruula mussten sich unter dem heftigen Ansturm ducken. Aikos Kräfte erwiesen sich wieder einmal als sehr nützlich: Er packte seine Gefährten an den Armen und stützte sie. Trotzdem brauchten sie eine ganze Weile, bis sie vor dem Eingang der U-Bahn-Station anlangten.
Während Aruula und Aiko einen Blick in die finstere Tiefe riskierten, schaute Matt sich um. Auf der linken Straßenseite ragte, wie ein hohler Zahn, ein mitgenommenes Geschäftshaus in die Luft. Es war etwa zwanzig Stockwerke hoch. Die oberen Etagen waren ebenso stark beschädigt wie die aller anderen Häuser. Die Fenster der fünf unteren hatte man zugemauert - vermutlich in den ersten Wochen nach der Katastrophe als Schutz vor marodierenden Banden.
Leicht irritiert betrachtete matt die zehn Stockwerke zwischen dem fünften und fünfzehnten: Deren Fenster wirkten unversehrt.
Waren die dahinter liegenden Räume bewohnbar? Lebten in Vancouver etwa noch Menschen? Er konnte es sich nicht vorstellen. Unter den hiesigen klimatischen Bedingungen wuchsen nicht mal Bäume. Wovon sollten Menschen sich in dieser Ödnis ernähren? Wie sollten sie ihre Behausungen heizen?
»… hältst du davon?«, drang Aruulas Stimme an sein Ohr.
»Wie bitte?« Er hatte nicht zugehört.
Aruula deutete hinab auf den Boden vor ihren Füßen. »Na, was sagst du zu den Knochenresten? Sieht nicht so aus, als ob sie frisch wären, aber sicher lässt sich das nicht sagen.«
Matt folgte ihrem Fingerzeig. Erst jetzt sah er vor sich die Schädel und Skelette. Zweifellos menschliche Knochen! So sauber abgenagt wie sie waren,
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