0615 - Die Satans-Vision
vergangen.
»So, der Kaffee und der Cognac!« Die Bedienung stellte beides ab, kassierte direkt, und Anne trank zunächst einen Schluck Alkohol, der warm in ihren Magen rann und dort sein Aroma ausbreitete.
Danach umfaßte sie die Schale mit beiden Händen. Der Kaffee schimmerte fast schwarz. Auf seiner Oberfläche spiegelten sich die Lichter, die von der Decke herab auf die Gäste strahlten und sie manchmal blendeten.
Nach den ersten Schlucken war ihr warm geworden. Anne zog den schwarzen Mantel mit dem ebenfalls dunkel eingefärbten Kaninchenfell am Kragen aus und hängte ihn über die obere Rundung der Stuhllehne. Sie trug einen violetten Pullover und moderne helle Winterjeans. Ihre Füße steckten in halbhohen gefütterten Stiefeln.
Anne Geron war eine schlanke Person. Das schwarze Haar lag glatt um ihren Kopf und ließ das Gesicht noch schmaler aussehen.
Manchmal, wenn sie unterrichtete – sie war Kunstlehrerin – band sie es im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammen, normalerweise trug sie es lieber lang, das war ihr persönlicher Stil.
Ihre Gesichtshaut wirkte immer ein wenig blaß. Der Mund ebenfalls, nur die dunklen Augen oberhalb des schmalen Nasenrückens, zeigten stets einen etwas melancholischen Ausdruck, so daß Anne wie eine Person wirkte, die ständig über irgendwelche Probleme nachdachte, ohne sie allerdings lösen zu können.
In der Tat war die sechsundzwanzigjährige junge Frau ein ernster Mensch. Ja, sie dachte oft daran, daß es vielen Menschen sehr gut ging, anderen sehr schlecht, und sie taute eigentlich nur auf, wenn sie sich mit ihrer Kunst beschäftigen konnte.
Hin und wieder malte sie selbst, und all ihre Bilder konnten eine gewisse Düsternis und Melancholie nicht verleugnen. Als wären sie von einem Menschen gemalt worden, der unter einem schweren Schicksal zu leiden hatte.
In der Tat dachte sie oft über ihr Schicksal und auch über die Herkunft nach, denn da lag noch einiges im dunkeln. Ihre Eltern waren früh gestorben, dank eines Stipendiums einer Kunstakademie hatte sie ihr Studium und das Leben bisher meistern können, und den Job als Lehrerin hatte sie nur durch einen Zufall bekommen, weil sie eben zu gewissen Künstlerkreisen gute Beziehungen besaß.
Sie saß auch jetzt als einzige einsam an dem kleinen runden Bistrotisch, trank ihren Kaffee und schaute sich die Menschen an, die miteinander sprachen, lachten, aßen und tranken.
In der Mehrzahl bevölkerten junge Leute das Café. Es war für sie eine Anlaufstelle oder Treffpunkt, Anne saß zum erstenmal hier. Sie fühlte sich in diesen Yuppie-Kreisen überhaupt nicht wohl, aber sie wollte nicht für Stunden auf dem schmalen Stuhl hockenbleiben, obwohl sie sich davor fürchtete wieder in ihre kleine Wohnung in der Altstadt zurückzukehren.
Eigentlich war sie gern dort, nur nach diesen schrecklichen Vorkommnissen hatte sie einfach Angst davor, allein zu sein. Vielleicht hätte sie die Begleitung des jungen Mannes nicht abschlagen sollen, aber das war vorbei, zu spät.
Den Rest des Cognacs kippte sie in den Kaffee und vermischte die Flüssigkeiten miteinander, indem sie die breite, schalenartige Tasse einige Male drehte.
Mit einem letzten Schluck leerte sie das Gefäß und griff zu ihren Zigaretten. Hin und wieder rauchte sie ein Stäbchen. Nach diesen Aufregungen würde es ihr sicherlich guttun.
Sie zündete sich die Filterlose aus der blauen Packung mit einem Reklamestreichholz an, blies den Rauch der Decke entgegen und schaute nach vorn in Richtung Eingang.
Die Bedienung streifte an ihrem Tisch vorbei, sah die leeren Gefäße und erkundigte sich, ob sie noch etwas bringen sollte.
Anne entschied sich schnell. »Ja, noch einen Kaffee, bitte.«
»Gern.«
Der Rauch wölkte sich vor ihrem Gesicht. Kein Ventilator verteilte ihn. Sehr nachdenklich schaute Anne in die Wolken hinein und dachte wieder an die Vision und auch daran, daß nur sie etwas davon wahrgenommen hatte. Weshalb?
Alles im Leben hatte seinen Grund. Es geschah nichts ohne Motiv.
Irgendwo lief der Kreis des Schicksals eines jeden Menschen zusammen, so war es auch bei ihr.
Anne glaubte nicht an einen Zufall, daß sie dazu auserwählt worden war, genau die Dinge zu sehen. Nein, das mußte etwas zu bedeuten haben. Der Kaffee wurde vor sie abgestellt. Anne zahlte wieder und spürte trotz des genossenen Getränks eine gewisse Müdigkeit in sich hochsteigen. Sie nahm sich vor, nach dieser Tasse das Café zu verlassen und in ihre Wohnung zu gehen, wo sie
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