0615 - Die Satans-Vision
katapultierte.
Auf dem Tisch lag Anne Geron, regungslos, vielleicht war sie tot, vielleicht auch nicht.
Darum konnte ich mich nicht kümmern, denn wichtiger war in diesem Augenblick Rodin.
Und er wollte dann die Flucht ergreifen.
Der Weg zur Tür war ihm versperrt. Er rast auf das Fenster zu, stieß sich ab und wuchtete sich gegen die Scheibe.
Mit einem Knall zerbrach das Glas, aber das Fensterkreuz, das es noch gab, zersplitterte zur Hälfte. Die übriggebliebenen Reste reichten aus, um den Mann zu halten.
Der hing nun. Mit dem Oberkörper aus dem Fenster. Ein Stück Holz, das von oben nach unten führte, hatte seinen Hals geritzt, wo sich ein Blutfleckchen zeigte.
Ich lief zu ihm.
Er hatte den Kopf nach rechts gedreht. Bleich war die Haut, die Brille verrutscht, der Blick seiner Augen so leer wie der des Templers im Flur.
Pierre Rodin war tot.
Und Anne?
Ich sprang auf den Tisch zu. Der Kampf war gehört worden. An der Tür standen die Templer. Sie alle schauten mich an, sie alle sahen auch, daß ich anfing zu weinen.
Ich weinte um eine Tote!
Diesmal hatte ich es nicht geschafft. Die Zeitspanne war einfach zu kurz gewesen. Rodin hatte sein verdammtes Messer noch nach unten stoßen können, so waren letztendlich die Satansvisionen zu einer schrecklichen Realität geworden.
Daß der Abbé eintrat, bemerkte ich nicht. Ich hörte nur seine Stimme, wie er sagte: »Bringt das Mädchen zu Jorge. Sie beide werden hier im Ort ihr Grab bekommen.«
Dann strich er mit seiner Hand über mein Haar, aber auch er konnte mich nicht trösten…
***
Der nächste Morgen brachte Sonnenschein und blauen Himmel. Ich hatte so gut wie nicht geschlafen, war ständig hochgeschreckt, immer das Bild der toten Anne Geron vor Augen.
Liegenbleiben wollte ich nicht, auch wenn ich mich matt fühlte.
Hammerschläge dröhnten durch das Haus, weil die Templer dabei waren, das Fenster zu reparieren.
Ich erhob mich von der einfachen Liegestatt und zog mich nach dem Waschen wie in Trance an.
Dann ging ich hinunter.
Der Abbé saß trotz der Kälte draußen, eingehüllt in einen dicken Mantel, sein Gesicht mit der dunklen Brille der Wintersonne zugewandt. Als er meine Schritte hörte, erkannte er mich am Gang.
»Setz dich zu mir, John, denn ich habe auf dich gewartet.«
Rechts neben ihm nahm ich Platz.
»Du hast es gut gemeint«, sagte er, »als du uns die Ikone brachtest. Sie ist wieder normal.«
Ohne aufzublicken, fragte ich: »Was heißt das?«
»Die Frau ist verschwunden, sie hat sich aufgelöst, denn sie gehörte nicht dorthin. Der Geist des Bösen hat die Ikone verlassen.«
»Und ich habe gedacht, der Templer-Schatz wäre so normal gewesen wie ein anderer Schatz auch.«
»Man weiß es nicht. Du hast ihn gesehen, John, du mußt entscheiden.«
»Ich lasse ihn dort.«
»Eine gute Entscheidung. Ich will dir auch sagen, daß wir die Ikone nicht verkaufen. Sie wird uns immer an eine Anne Geron erinnern, die durch die Hand eines menschlichen Satans ihr junges Leben verloren hat. Vielleicht stellen wir sie auf ihr Grab.«
»Tut, was ihr wollt«, flüsterte ich. »Lange genug habe ich warten müssen, dann endlich hatte ich Zeit, euch die Ikone zu bringen. Was ist daraus geworden?« Ich hob die Schultern. »Drei Tote – ich hätte nie damit gerechnet.«
»Das kann man auch nicht, mein Freund. Dieses Stück Hölle ist fast stärker gewesen.«
»Wann wird sie mal schwächer sein, Abbé?«
»Nie, glaube ich. Nur müssen wir uns umstellen und sie ebenso raffiniert bekämpfen.«
»Da hast du recht.« Ich stand auf.
»Wo willst du hin, John? Bleibe hier, es ist ein wunderbarer Sonnentag.«
»Ich bleibe auch draußen, Abbé, aber allein. Ich möchte etwas durch den Ort gehen.«
»Das kann ich verstehen.« Er räusperte sich. »Auch zu deinem Ahnherrn Hector de Valois?«
»Kann sein«, erwiderte ich und ging mit knirschenden Schritten davon…
ENDE
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