0615 - Die Satans-Vision
sehr blaß aus.«
Anne wischte fahrig durch die Luft. »Ja, das ist schon wahr. Der plötzliche Anfall, wissen Sie…«
Der junge Mann beugte sich vor. Er trug einen rehbraunen Mantel von sehr modernem Schnitt. Das dunkelblonde Haar hatte er glatt nach hinten gekämmt und eingegelt. Die Brille mit dem blauen Gestell stand ihm. Sie gab ihm ein intellektuelles Aussehen. »Wäre es nicht wirklich besser, wenn ich Sie ein Stück des Weges begleite und ein oder zwei Augen auf Sie halte?«
»Das ist wirklich nicht nötig – danke. Ich komme schon allein zurecht.«
»Wie Sie wünschen, Mademoiselle.« Er lächelte noch einmal, drehte sich um und war sehr schnell innerhalb des Gedränges in der Passage verschwunden.
Anne Geron aber atmete sehr tief durch. Sie mußte erst einmal zu sich selbst finden. Obwohl sie es nicht wollte, dachte sie permanent an die schrecklichen Vorgänge in dem Schaufenster, dem sie nach wie vor den Rücken zudrehte.
Nur sie hatte den Schrecken gesehen. Weshalb nicht die anderen?
Sie traute sich noch nicht, ihren Körper zu drehen und wieder hinzuschauen. Vor ihr floß der Strom der Käufer vorbei. Weihnachtliche Musik, süßlich verkitscht, schwang durch die Passage und verwehte draußen im Verkehr der Einkaufsstraße.
Nur die Kinder schritten mit erwartungsvollen Ausdrücken in den Gesichtern an den Schaufenstern vorbei, die Erwachsenen machten mehr einen gestreßten Eindruck.
Endlich überwand sich Anne und drehte sich auf der Stelle. Ihre Augen zuckten, denn der Engel lächelte auf sie herab. Keine Spur mehr von dem Grauen, das nur sie allein gesehen hatte. Da hingen die kleinen Pakete und Flaschen völlig normal innerhalb der schneebedeckten Auslagen. Da flimmerte und glitzerte das Kunsteis. Eine Verkäuferin griff nach einem besonders großen Paket, mußte es mit zwei Händen umfassen. Als sie aus ihrer gebückten Haltung wieder hochkam, trafen sich ihre Augen und Annes Blicke.
Die Verkäuferin schaute die junge Frau fast böse an, wandte sich hastig ab, verschwand im Geschäft und blieb neben einer älteren Kundin stehen, auf die sie einsprach.
Anne aber ging weiter. Sehr vorsichtig setzte sie dabei ihre Füße, weil sie bei jedem Auftreten noch immer das Gefühl hatte, ins Leere zu schreiten.
Dieser Eindruck, auf Wellen zu laufen, ließ sich einfach nicht verdrängen. Nachwirkungen des Schwindels, der glücklicherweise sich nicht mehr verstärkte.
Der Strom aus Menschen schob sie automatisch voran. Sie mußte sich nur treiben lassen.
Trotzdem bekam sie kaum etwas von ihrer Umgebung mit. Auch wenn sie in die Schaufenster schaute, gelang es ihr kaum, die Waren zu betrachten, die dort ausgestellt waren.
Anne suchte etwas und wußte nicht, was. Bis ihr die zuckende Reklame eines dieser modernen kleinen Cafés ins Auge stach. Der Laden hieß »Moment mal«, und auf ihn lenkte die junge Frau ihre Schritte zu. Eine Tasse Kaffee war genau das, das ihr jetzt fehlte.
Sie schaute auf die Stehtische, die glänzende Theke, wo viel Chrom verarbeitet worden war, auf die schicken Mädchen, die bedienten, und sie sah in der Ecke einen kleinen Tisch, an dem nur ein Stuhl stand, der zufällig noch leer war.
Bevor jemand anderer Platz nehmen konnte, hatte sich Anne bereits hingesetzt, schloß für einen Moment die Augen und glaubte, sich von dem sie umgebenden Stimmengemurmel wegtragen lassen zu können. Sie floh gedanklich auf dichten Wolken dahin, und erst die fragende Stimme der Bedienung riß sie aus ihren Träumen.
»Entschuldigen Sie, ich war in Gedanken.«
Die Bedienung, auf schnelles Verkaufen eingestellt, lächelte nur schief. »Ja, natürlich, was…«
»Einen großen Kaffee, bitte. Aber ohne Milch, nur schwarz.«
»Sonst noch etwas?«
»Ja, und einen Cognac.«
»Sehr wohl.«
Anne schaute dem jungen Mädchen nach, ohne es richtig zu sehen. Auch die anderen Gäste nahm sie kaum wahr. Sie bildeten für sie mehr eine gesichtslose Masse, die sich innerhalb des Raumes verteilte. Dabei versuchte doch jeder Gast Eindruck zu schinden und sich irgendwie in den Vordergrund zu stellen. Man kam nicht, man produzierte sich selbst, das war heute nichts Ungewöhnliches, besonders nicht in Cafés wie diesen, die zu den »In«-Schuppen von Toulouse zählten.
Nicht weit entfernt war ein Salat-Buffet aufgebaut, wo es auch Köstlichkeiten aus dem Meer gab. Eigentlich wäre es für Anne Geron Zeit gewesen, etwas zu essen, gerade Salate und Meeresfrüchte mochte sie, aber der Appetit war ihr
Weitere Kostenlose Bücher