0615 - Die Satans-Vision
Ihren Namen. Was Sie mir, einem Fremden, da vorwerfen, ist ungeheuer. Ich muß mich wirklich fragen, mit wessen Geistes Kind ich es hier zu tun habe? Sind Sie in ärztlicher Behandlung? Sind Sie vielleicht aus einer Klinik ausgebrochen? Bitte, seien Sie ehrlich!«
Nach einer Weile gab Anne die Antwort, zuvor einen Zwischenrufer abwehrend, der einen Arzt schicken wollte. »Sie haben, aus Ihrer Sicht gesehen, ja recht. Auch ich muß mich fragen, ob ich noch normal bin. Ich war es bis vor kurzem, dann hatte ich diese fürchterlichen Visionen. Ich kann nichts dafür, es… es kam einfach über mich. Ich habe etwas Furchtbares gesehen, eine Apokalypse im Kleinen. Sie … Sie müssen entschuldigen, aber es ist leider alles so abgelaufen, wie ich es Ihnen mitgeteilt habe. Vorhin in der Passage, da verwandelte sich der Trompetenengel im Schaufenster in eine Mordgestalt. Jetzt waren Sie es. Ich kann da nichts für!«
Der Fremde rückte wieder näher, weil er Anne so normal sprechen gehört hatte. »Möchten Sie nicht doch einen Cognac trinken?«
»Ich habe schon einen… Sie verstehen?«
»Natürlich. Darf ich fragen, wie Sie heißen?«
»Anne Geron. Ich bin Kunstlehrerin an einer Schule hier in der Stadt.«
»Mein Name ist Pierre Rodin. Ich stamme aus dem Norden, nicht weit von Paris entfernt. Mich hat der Job hierher getrieben. Die Flugzeugindustrie. Aber davon einmal ganz abgesehen, glauben Sie nicht, daß es besser ist, wenn Sie einmal mit einem Arzt reden?«
Anne hob die Schultern. »Ich weiß selbst nicht, was für mich gut ist oder nicht, Pierre. Diese Visionen waren ja nicht immer: Ich habe sie heute zum erstenmal erlebt und glaube gleichzeitig, daß sie mit meinem Schicksal untrennbar verbunden sind. Wahrscheinlich werde ich ihnen nie entrinnen können.«
»Kann es denn sein, daß Sie überarbeitet sind? So etwas gibt es ja. Der Streß der Menschen ist gerade vor Weihnachten besonders groß, wo eigentlich das Gegenteil der Fall sein sollte.«
»Nein, das bin ich nicht. Ich habe mich immer wohl gefühlt. Bis es plötzlich über mich kam.«
Rodin nickte. »Bon«, sagte er, »und was wollen Sie jetzt machen? Irgend etwas müssen Sie doch gegen diese Visionen unternehmen, meine ich wenigstens.«
»Ich werde jetzt nach Hause gehen.«
»Und dann?«
Anne schaute gegen die Decke, als könnte sie aus den Lampen eine Antwort ablesen. »Ich werde mich wohl niederlegen und einfach versuchen, nicht mehr daran zu denken.«
»Das ist nicht die schlechteste Lösung«, gab Rodin zu. »In Ihrem Fall könnte es doch sein, daß die Visionen in einer anderen Form wiederkehren. Oder nicht?«
»Damit muß ich rechnen.«
»Können Sie auch etwas dagegen unternehmen?«
»Nein, Pierre, das glaube ich nicht. Nein, das wird mir wohl unmöglich sein. Ich kann so etwas nicht steuern. Wissen Sie, es kommt über mich wie ein plötzliches Gewitter. Auf einmal ist alles anders. Da verändert sich die reale Welt. Ich sehe schreckliche Bilder, der Tod hält reiche Ernte. Sie haben das Schwert geschwungen, als wäre es die Sense des Knöchernen.«
Pierre Rodin reichte ihr ein frisches Taschentuch, denn er sah, wie Anne anfing zu weinen. Als sie sich die Tränen abgetupft hatte, rückte er mit seinem Vorschlag heraus.
»Ich möchte, daß Sie mich nicht falsch verstehen, aber wäre es nicht besser, wenn ich Sie nach Hause geleite?« Er lächelte. »Mein erstes Angebot besteht noch immer.«
Anne hob die Schultern. »Ich weiß nicht, ob ich Sie mit meinen Problemen belasten darf…«
»Machen Sie sich da keine Sorgen. Ich habe einige Tage frei und werde Ihnen helfen. Außerdem mag ich Sie, Anne.«
Erstaunt blickte sie ihm ins Gesicht. »Das sagen Sie, ohne mich zu kennen? Ich habe doch in Ihnen den großen Feind gesehen, der Mörder, der alles tötet.«
»Das ist Ihr Problem, nicht das meine.«
»Hoffentlich bleibt es auch meines.« Sie drückte den Stuhl zurück und stand auf.
Rodin nahm ihren Mantel und half Anne hinein. Von den anderen Gästen wurden sie beobachtet, ohne daß einer von ihnen einen Kommentar abgab. Sie schauten nur zu, wie die beiden in Richtung Ausgang schritten. Erst dann erfolgten Kommentare. Die Bedienung drehte sogar ihre Hand vor den Augen im Kreis, ein Zeichen, das wohl international bekannt war.
In der Passage, wo sie wieder von der süßlichen Weihnachtsmusik eingelullt wurden, fragte Pierre: »Haben Sie Ihren Wagen irgendwo in der Nähe abgestellt?«
»Ich bin ohne Auto.«
»O, das trifft sich gut,
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